„Angewiesenseins“ der Klassen aufeinander. Denn in Wirklichkeit hat der Klassenkampf in Revolutionszeiten stets und unvermeidlich die Form des Bürgerkrieges angenommen, und der Bürgerkrieg ist undenkbar sowohl ohne Zerstörungen der schlimmsten Art, wie auch ohne Terror und Einschränkungen der formalen Demokratie im Interesse des Krieges. Nur die süsslichen Pfaffen – einerlei, ob die christlichen oder „weltlichen“ Pfaffen, wie die Salon- und Parlamentssozialisten – können die Notwendigkeit nicht einsehen, nicht verstehen, nicht fassen. Nur der Tschechowsche Typ des unlebendigen „Mannes im Futteral“ ist fähig, dessentwegen von der Revolution abzurücken, anstatt sich mit der ganzen Vehemenz und Entschlossenheit in den Kampf zu stürzen in einem Moment, da die Geschichte durch Kampf und Krieg die höchsten Fragen der Menschheit gelöst haben will.
Im amerikanischen Volke lebt eine revolutionäre Tradition, die die besten Vertreter des amerikanischen Proletariats übernommen haben, – jene Vertreter, die wiederholt ihre völlige Solidarität mit uns, Bolschewiki, kundgaben. Diese Tradition rührt aus dem Befreiungskriege gegen die Engländer im 18. Jahrhundert und dem Bürgerkriege im 19. Jahrhundert her. 1870 stand Amerika in gewisser Hinsicht, – berücksichtigt man bloss die „Zerstörung“ einiger Zweige der Industrie und der Volkswirtschaft – weit hinter 1860 zurück. Aber wie pedantisch, ja geradezu idiotisch müsste ein Mensch genannt worden, der auf Grund dessen die höchste universell-historische, fortschrittliche und revolutionäre Bedeutung des amerikanischen Bürgerkrieges von 1863–1865 leugnen wollte.
Die Vertreter der Bourgeoisie begreifen wohl, dass die Abschaffung der Negersklaverei, der Sturz der Sklavenhalterherrschaft dessen wert war, dass das ganze Land lange Jahre des Bürgerkrieges, einen Abgrund von Zerstörung, Verwüstung und Terror, diese Begleiterscheinungen des Krieges, auf sich nehme. Jetzt aber, da es um eine unermesslich weit grössere Aufgabe sich handelt, um die Aufgabe, die kapitalistische Lohnsklaverei abzuschaffen und die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen –, jetzt können die Vertreter und Anhänger der Bourgeoisie, ebensowenig wie die Reformsozialisten, die von der Bourgeoisie eingeschüchtert sind und sich vor der Revolution gruseln, die Notwendigkeit und Gesetzmässigkeit des Bürgerkrieges nicht einsehen und wollen sie nicht einsehen.
Die amerikanischen Arbeiter werden der Bourgeoisie nicht folgen. Sie werden mit uns gegen die Bourgeoisie gehen. Ich werde in dieser meiner Ueberzeugung durch die ganze Geschichte der internationalen wie der amerikanischen Arbeiterbewegung bestärkt. Ich erinnere mich auch an die Worte eines der beliebtesten Führer des amerikanischen Proletariats, Eugen Deebs, der – ich glaube Ende 1915 – in seinem „Appeal to Reason“ (Aufruf zur Vernunft) im Kapitel „What shall I fight for“ (wofür kämpfe ich?) schrieb, dass er, Deebs, sich eher füsilieren lassen würde, als dass er die Kredite für den gegenwärtigen verbrecherischen und reaktionären Krieg bewilligte; dass er, Deebs, nur den einen geheiligten und vom Standpunkt des Proletariats berechtigten Krieg kenne: den Krieg gegen die Kapitalisten, den Krieg zur Befreiung der Menschheit von der Lohnsklaverei (ich zitierte diesen Aufsatz Anfang 1916 in einer öffentlichen Arbeiterversammlung in Bern).
Es wundert mich keineswegs, dass Wilson, das Haupt der amerikanischen Milliardäre und der Helfershelfer des Kapitalismus, Deebs ins Gefängnis setzen liess. Mag die Bourgeoisie[WS 1] die wahren Internationalisten, die wahren Vertreter des revolutionären Proletariats brutalisieren! Je mehr Verbitterung und Brutalität ihrerseits, desto näher ist der Tag der siegreichen proletarischen Revolution.
Uns werden Verwüstungen vorgeworfen, die unsere Revolution erzeugt haben soll… Und wer wirft uns das vor? Die Schleppenträger der Bourgeoisie, – derselben Bourgeoisie, die in vier Jahren imperialistischen Weltkrieges fast die ganze europäische Kultur zerstört und Europa in den Zustand der Barbarei, der Verwilderung und des Hungers zurückversetzt hat. Diese Bourgeoisie fordert jetzt von uns, dass wir die Revolution anders durchführen als auf dem Boden dieser Zerstörungen, nicht auf den Trümmern der Kultur, nicht unter den vom Krieg erzeugten Trümmern und Ruinen, nicht mit den vom Krieg verwilderten Menschen. Oh, wie menschlich und gerecht ist doch diese Bourgeoisie!
Ihre Diener machen uns den Terror zum Vorwurf… Die englischen Bourgeois haben ihr Jahr 1649, die Franzosen ihr 1793 vergessen. Der Terror war gerecht und berechtigt, als er von der Bourgeoisie zu ihren Gunsten gegen die Feudalherrschaft angewandt wurde. Der Terror wurde aber ungeheuerlich und verbrecherisch, als ihn die Arbeiter und die armen Bauern gegen die Bourgeoisie anzuwenden wagten. Der Terror
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Bourgoisie
Wladimir Iljitsch Lenin: Ein Brief an die amerikanischen Arbeiter. o. A., o. O. 1918, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_Brief_an_die_amerikanischen_Arbeiter_(1918).djvu/8&oldid=- (Version vom 28.8.2018)