Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen | |
|
8 | 14. Stellung, Aufgabe und Methode der Phonetik. |
mit denen man bei dem Versuche der Nachbildung dem akustischen
Effect derselben einigermassen nahe kommt, obwohl oft
genug diese eigenen Articulationen den fremden nicht entsprechen.
Man wird also erst dann sagen dürfen, dass ein vorläufiger
Abschluss in der phonetischen Vorbildung nach dieser
Richtung hin erreicht ist, wenn es dem Beobachter gelingt,
jeden fremden Laut, womöglich auch nach dem Gehör allein,
richtig zu erfassen und nach seiner Stellung im eigenen wie
nach seinem Verhältniss zu entsprechenden Lauten anderer
Systeme zu charakterisiren. Als eine Vorbereitung für die Erreichung
dieses Zieles mag auch die vorsichtige Beschäftigung
mit experimentalphonetischen Studien hie und da von Nutzen
sein, insofern sie zumal den stumpfhörigen Anfänger über bisher
übersehene Lücken in seinem Beobachtungsvermögen aufklären
können. Wirkliche Herrschaft über das Errungene erlangt
aber dann doch wieder nur derjenige, dem es gelingt
seine Sinne so zu schärfen, dass er nicht mehr dem Banne der
vielfach täuschenden todten Apparate zu unterliegen braucht. —
14. Die landläufige Grammatik nimmt gewöhnlich von den Buchstaben oder Lauten ihren Ausgang und steigt von da zu der Betrachtung der Silben, Wörter und Sätze auf. Es ist aber von selbst einleuchtend, dass eine streng systematisch vorgehende Phonetik bei der Untersuchung des Satzes beginnen müsste, denn der Satz allein ist ein in der gesprochenen Sprache selbst gegebenes, direct zu beobachtendes Object. Das Wort, die Silbe, der Einzellaut aber nehmen gar oft im ‘Satze’ (dies Wort in dem weiteren Sinne gefasst, in dem es gewöhnlich gebraucht wird; zur Sache selbst s. 611 ff.) verschiedene Gestalt an, und der Einzellaut existirt in der absoluten Form, wie ihn uns die Grammatik vorzuführen gewohnt ist, häufig gar nicht einmal isolirt in der Sprache. So sollte also zunächst der ‘Satz’ untersucht werden, mit allen denjenigen Veränderungen, die er beim mündlichen Ausdruck erfahren kann (z. B. denjenigen, welche derselbe ‘Satz’ erleidet, wenn er als einfache Aussage, als Ausrufs-, als Fragesatz etc. verwandt wird, u.a.m.). Erst nachdem man gelernt hat, diesen veränderlichen Eigenschaften des Satzes Rechnung zu tragen, sollte man zur Zerlegung des Satzes selbst fortschreiten, d. h. zur Untersuchung der einzelnen Sprechtakte (620 ff.) und der Silben als Glieder dieser Sprechtakte. Daran erst hätte sich dann die Analyse der Silben als solcher und die ihrer Einzellaute anzuschliessen. Was sich dann am Ende als Definition des Einzellautes
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/28&oldid=- (Version vom 23.5.2022)