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Walter Ledig, Ferdinand Ulbricht: Die Sekundär-Eisenbahnen des Königreichs Sachsen |
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Es stellte sich immer mehr heraus, dass der grosse Betriebsapparat, den man bislang als mit dem Eisenbahnwesen untrennbar verbunden geglaubt und der mithin auch auf den einfacher bewirthschafteten Nebenlinien im Prinzip aufrecht erhalten worden war, für einen grossen Theil der nur dem lokalen Verkehr dienenden Bahnunternehmungen nicht ohne erhebliche Schädigung des finanziellen Interesses beibehalten werden könne. Denn es lag auch auf der Hand, dass die Betriebseinnahmen solcher Bahnen, namentlich soweit sie, in dünn bevölkerten und minder entwickelten Landestheilen gelegen waren, auch unter normalen Verkehrsverhältnissen ein gewisses bescheidenes Mass nicht überschreiten konnten und selbst bei günstiger Verkehrsentwickelung weit hinter den Einnahmeziffern der dem grossen Verkehr dienenden Bahnunternehmungen zurückbleiben mussten. Hiergegen waren die Betriebsausgaben, die diese kleineren Bahnen zu übertragen hatten, in vielen Beziehungen dieselben, wie bei den primär betriebenen Linien. Sowohl die Gesetzgebung, als auch die traditionellen Ansprüche des Publikums erheischten – und zwar sowohl in Ansehung des Baues als auch des Betriebes – zahlreiche Einrichtungen, welche über die finanziellen Kräfte derartiger Transportunternehmungen weit hinausgingen, und die Vereinfachungen, welche die einzelne Verwaltung im Rahmen der gegebenen Normalien vornahm und vornehmen konnte, waren in ihrem pekuniären Effekte nicht von dem Belang, um dieses Missverhältniss in wirksamer Weise ausgleichen zu können.
Je mehr aber diese Umstände in den Betriebsergebnissen zur Erscheinung kamen, um so dringender machte sich die Nothwendigkeit geltend, im Interesse der Rentabilität eine entsprechende Aenderung der Bau- und Betriebsvorschriften für Nebenlinien mit geringerem Verkehr anzustreben.
Hand in Hand hiermit brach sich aber auch die Ueberzeugung Bahn, dass der gewohnte grosse Apparat in vielen Beziehungen auch aus in der Sache selbst liegenden Gründen für Bahnen der hier fraglichen Gattung nicht nothwendig sei und dass namentlich zahlreiche Vorschriften, die auf die Sicherheit des Betriebes sich bezogen, bei solchen Linien ohne weiteres entbehrt werden könnten.
Schon längst hatte man erkannt, dass die Gefahren, die man ursprünglich mit dem Eisenbahnbetriebe untrennbar verbunden glaubte und die vielleicht auch die Gesetzgebung zum Erlass mancher strengen Bestimmung veranlasst haben mochte, in mehreren Beziehungen weit überschätzt worden waren. Die musterhafte Ordnung auf den Deutschen Eisenbahnen, die unausgesetzte Vervollkommnung der technischen Anlagen und die Gewöhnung des Publikums hatten das Ihrige dazu beigetragen, den Bahnbetrieb im allgemeinen nach und nach in einem minder gefährlichen Lichte erscheinen zu lassen, als dies in der ersten Zeit des Eisenbahnwesens der Fall war, wie denn auch das Beispiel anderer Länder, wo zum Theil von Anfang an wesentlich freiere Grundsätze hinsichtlich der Betriebssicherung zur Anwendung gebracht worden waren, nicht ohne Einfluss auf die allgemeine Anschauungsweise geblieben war. Dabei war nicht zu verkennen, dass gerade diejenigen Momente, aus denen seinerzeit die öffentliche Meinung vorzugsweise die Gefährlichkeit des Eisenbahnbetriebes im allgemeinen hergeleitet hatte, bei einem grossen Theil der neuen Nebenbahnen in wesentlich geringerem Masse in Betracht kamen, wie bei der Mehrzahl der für den grossen Verkehr bestimmten älteren Eisenbahnlinien. Während andere Verkehrsinstitute von der Bewältigung lokaler Aufgaben erst nach und nach zu der Vermittelung entfernterer Verkehrsbeziehungen übergegangen waren, hatte die Eisenbahn gewissermassen den umgekehrten Entwickelungsgang genommen. Dasselbe Institut, welches ursprünglich nur in dem schnellen Transporte grosser Massen und auf weite Entfernungen seine Bestimmung zu finden schien, war nebenbei immer mehr zum Vermittler provinzialer und lokaler Verkehrsinteressen geworden. Die zahlreichen Lokalbahnen, die in allen Gegenden Deutschlands entstanden waren, hatten mit den grossen Eisenbahnlinien, abgesehen von der allen Bahnen gemeinsamen Verwendung der Dampfkraft auf Schienengleisen, nur noch wenig gemeinsames; sowohl ihre Aufgaben, als auch ihre Leistungen waren wesentlich andere und hiermit musste von selbst eine ins Gewicht fallende Modifikation derjenigen Einwirkungen verbunden sein, die der Eisenbahnbetrieb in seinen Beziehungen zum allgemeinen Verkehr – speziell aber in Ansehung der öffentlichen Sicherheit – im Gefolge hatte. Denn während bei den grossen Eisenbahnlinien die Intensität des Verkehrs infolge der mit der Zeit stetig vermehrten Fahrgeschwindigkeit, der zunehmenden Zugszahl und Zugsstärke, sowie der wachsenden Komplizirtheit der Verkehrsanlagen und namentlich auch des Rangirgeschäfts von Jahr zu Jahr gestiegen war, sah man sich bei den Nebenbahnen aus Gründen wirthschaftlicher Natur veranlasst von vornherein die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Hier galt es von Anfang an, den untergeordneten Verkehrsverhältnissen durch thunlichste Einschränkung der Ausgaben ein wirthschaftliches Gegengewicht entgegen zu stellen. Folge hiervon war, dass die betriebliche Einrichtung ebenso wie die administrative Ausstattung auf das äusserste Mass beschränkt wurden und je mehr man sich daran gewöhnte, die Eisenbahn auch als Vermittlerin derartiger lokaler Verkehrsbeziehungen zu betrachten, um so allgemeiner wurde das Bestreben nach Vereinfachung der Verkehrseinrichtungen, um so bemerklicher aber auch die Unterschiede des modernen Nebenbahnbetriebes von der gewohnten Betriebsweise.
Unter diesen Umständen war es erklärlich, dass ein grosser Theil derjenigen Vorschriften, die seinerzeit mit Rücksicht auf die Sicherheit des Verkehrs für den Eisenbahnbetrieb im allgemeinen erlassen worden waren, für die neuen Unternehmungen nicht mehr passen wollten. Namentlich kam in Betracht, dass bei dem weitaus grössten Theile dieser Bahnen schon aus ökonomischen Gründen die Annahme einer bedeutend ermässigten Fahrgeschwindigkeit geboten erschien, womit von selbst einer der hauptsächlichsten Gründe, die bislang für die Aufrechterhaltung der vielfachen Sicherheitsvorschriften massgebend gewesen waren, für Bahnen dieser Gattung in Wegfall gelangte. Wenigstens liess die verhältnissmässige Kürze der Entfernungen eine Ermässigung der Zuggeschwindigkeit in den meisten Fällen als zulässig erscheinen, wie denn überdies die durch den lokalen Charakter dieser Bahnen bedingte grössere Zahl der Haltestellen nicht selten die Anwendung eines geringeren Geschwindigkeitsmasses auch aus technischen Gründen nothwendig machte. Hierzu kam, dass die geringere Belastung der Züge, die verminderte Zahl der täglichen Zugsverbindungen, die Einfachheit der Stationsanlagen, sowie theilweise auch die leichtere Konstruktion der Betriebsmittel eine Gefährdung des Bahnbetriebes, sowie auch des sonstigen Verkehrs in geringerem Masse befürchten liessen, als dies bei den dem grossen Verkehr dienenden Eisenbahnlinien erfahrungsgemäss der Fall ist.
Diese Umstände führten schliesslich dazu, dass man auch in Deutschland die Einrichtung des sogen. sekundären Betriebes für Lokalbahnen in Erwägung zog. Hierbei gaben die Vorgänge in England und Skandinavien ein gutes Vorbild. Dort waren namentlich in den abgelegenen und weniger bevölkerten Distrikten Eisenbahnlinien gebaut worden, welche – obwohl für Personen- und Gütertransport bestimmt – deshalb billiger zu bauen und zu betreiben waren, weil auf viele Annehmlichkeiten der Hauptbahnen und namentlich auf die grosse Fahrgeschwindigkeit von vornherein verzichtet worden war. Diese Bahnen wurden – weil sie in mehrfachen Beziehungen hinter der gewöhnlichen Vorstellung von Eisenbahnen zurückblieben – gemeinhin als Sekundärbahnen bezeichnet; ihre hauptsächlichsten Abweichungen von den Hauptbahnen zeigten sich namentlich in der Annahme schärferer Steigungen und Kurven, in der Verwendung leichterer Schienen, hölzerner Brücken, einfacher Hochbauten und – hinsichtlich des Betriebes – in der verminderten Geschwindigkeit der Züge, der Einschränkung der Beamtenzahl, sowie in der geringeren Rücksichtsnahme auf die Bequemlichkeit der Reisenden.
Walter Ledig, Ferdinand Ulbricht: Die Sekundär-Eisenbahnen des Königreichs Sachsen. Druck von H. S. Hermann, Berlin 1886, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sekund%C3%A4r-Eisenbahnen_des_K%C3%B6nigreichs_Sachsen.pdf/11&oldid=- (Version vom 5.3.2025)