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Seite:Die Sage-Karl Wehrhan-1908.djvu/25

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III. Die Ethik der Sage.

Der ethische Gehalt der deutschen Volkssage ist schon verschiedentlich gewürdigt worden[1]. So schreibt W. Schwartz der Sage zu allen Zeiten eine gleichmäßige Richtung auf das Sittliche zu und beschränkt diese Richtung auch nicht auf die großen Sagengebilde der religiös und poetisch schöpferischen Epochen im Leben der Völker, sondern findet den sittlichen Trieb ebenso in den alltäglich aufquellenden anekdotischen Erdichtungen prosaischer Zeiten. Im allgemeinen muß anerkannt werden, daß der sittliche Trieb in der Volksseele die Sagenbildung in den meisten Epochen und in den verschiedensten Formen, von den hochpoetischen bis zu den alltäglichen herab, beherrscht. Diejenigen Erdichtungen wenigstens, in denen der sittliche Kern ganz fehlt, werden in den Schatz volkstümlicher Überlieferung nur in den selteneren Fällen aufgenommen, wenn sie einen die Volksphantasie mit eigentümlicher Gewalt treffenden anderen Kern besitzen.

Allerdings ist die sittliche Anschauung, welche bei der Sagenbildung – und auch Sagenerhaltung – mitwirkend oder allein wirkend erscheint, nicht immer gleich, sondern sowohl der Energie nach, mit welcher sie sich ausprägt, als auch dem Werte nach, den sie auf der Stufenleiter der sittlichen Bildung einnimmt, verschieden. Gerade die deutsche Sage zeichnet sich nun vor der aller anderen Völker sowohl durch eine eigentümliche Zartheit und Hoheit der sittlichen Vorstellungen, als durch die gewichtige Stellung der letzteren unter den Bestandteilen der Sage aus. Die Sagen aller Völker enthalten, freilich in verschiedenem Maße, solche Bestandteile, welche keine oder jedenfalls keine unmittelbare Beziehung zu sittlichen Ideen haben. In der deutschen


  1. Bechstein, Ludwig, Über den ethischen Wert der deutschen Volkssage (o.O.) 1857. – Hecker, Nikolaus, Die ethischen deutschen Sagen. Trier 1857. [Titel-] Ausg. 1862. – W. Schwartz, Die ethische Bedeutung der Sagen für das Volksleben im Altertum und in der Neuzeit. Berlin 1870. (=Sammlung wissenschaftlicher Vorträge, Heft 1.) – Der sittliche Zug in der deutschen Sage (Preußischer Staatsanzeiger 1870, Beilage zu Nr. 28. [Auch abgedruckt in L. Herrigs Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Band XLVII. Braunschweig 1871. S. 223–227.]
Empfohlene Zitierweise:
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)