ihr Reich zerstört, Jerusalem samt dem Tempel verbrannt, und das Volk Israel unter alle Völker zerstreut worden war. Jetzt war es offenbar und ging in Erfüllung, was der göttliche Heiland gesagt hatte: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis auf Johannes; von da an wird das Evangelium, die frohe Botschaft vom Reiche Gottes verkündet, und jeder soll Gewalt anwenden, es zu erlangen.“ (Luc. 16, 16.) Damit werden aber das Gesetz und die Propheten keineswegs aufgehoben, weshalb der göttliche Heiland beifügt: „Es ist aber leichter, daß Himmel und Erde vergehen, als daß ein Pünktlein vom Gesetze wegfalle.“ (Luc. 17.) Wie die Erfüllung des Gesetzes gemeint ist und vor sich gehen soll, zeigt Jesus, an die obigen Worte anknüpfend, in der Lehre von der Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe, von dem Ehebruche, den man schon im Herzen begehen kann, von der Meidung der Gelegenheit zur Sünde, von der allgemeinen Menschen- und Feindesliebe und anderen Tugenden. Schließlich blieb den Juden in der Zerstreuung auch nichts anderes übrig, als das Gesetz und die Überlieferungen, die Thora und den Talmud wohl nicht aufzuheben, sondern zu erfüllen, nämlich sie in einer Weise zu erklären, daß die Sittenlehre, die aus ihnen entnommen wird, der christlichen ganz ähnlich ist.
Für ihr Verhalten in der Zerstreuung unter den Völkern hatten die Juden bereits ein Vorbild in der siebzigjährigen babylonischen Gefangenschaft, sowie in der Lehre, die ihnen der Prophet Jeremias für den Aufenthalt in Babylon mit den Worten gegeben hatte: „Suchet den Frieden der Stadt, wohin ich euch abführen ließ, und betet für sie zu dem Herrn, denn ihr Friede wird euer Friede sein.“ (Jerem. 29, 7.)
Diese Vorschrift des Propheten erweiternd erzählt der Talmud, mit drei Schwüren habe Gott das Volk Israel in die Verbannung geschickt, er ließ Israel schwören, daß es nie eigenmächtig die Rückkehr in das gelobte Land zu erzwingen suchen, sondern geduldig ausharren sollte, bis Gott es wieder zurückführen werde. Er ließ Israel schwören, daß es sich nie gegen die Staaten, in denen es Aufnahme gefunden, empören sollte, die Völker aber beschwor Gott, daß sie Israel nicht über die Maßen drücken sollten.[1]
An Bedrückungen und schweren Leiden hat es jedoch dem Volke Israel seit der letzten Zerstörung des Tempels achtzehn Jahrhunderte hindurch nicht gefehlt. Unter den römischen Kaisern Trajan und Hadrian wurden Hunderttausende von Juden in Mesopotamien, Ägypten, Cyrene, Cypern und Palästina abgeschlachtet, unter denen sich auch der berühmte Rabbi Akiba befand, der im Jahre 132 mit eisernen Hecheln zerrissen wurde. Die vielen Verfolgungen, die später in Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland, Rußland über die Juden hereinbrachen, haben wir bereits erwähnt.
Fragen wir nach den Gründen, warum die Juden über die Maßen seit der letzten Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Völker bedrückt wurden, so liegt der erste Grund in den Empörungen gegen ihre Besieger, zu denen sie sich durch blinde Wut und Verführer verleiten ließen. Erst nachdem unter Kaiser Hadrian den
- ↑ Hirsch, c. l. S. 16.
Friedrich Frank: Die Kirche und die Juden. Manz, Regensburg 1893, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Kirche_und_Die_Juden.djvu/85&oldid=- (Version vom 31.7.2018)