Christi Zeiten hatte, geht aus dem Ausspruche des göttlichen Heilandes hervor, wenn er sagt: „Glaubet nicht, daß ich gekommen sei, das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, sie aufzuheben, sondern sie zu erfüllen, denn ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein Strichlein oder ein Punkt vom Gesetze vergehen, bis alles geschieht.“ (Matth. 5, 17. 18.)
Hinsichtlich der Mischna und Gemara hatten die Juden die nämliche Anschauung, daß an dem Inhalte derselben nichts geändert werden dürfe. An dem Inhalte der Mischna darf nichts geändert werden, weil er aus den Überlieferungen besteht, die ebenso von Gott geoffenbart sind, wie das, was in der heiligen Schrift steht. Einige Gelehrte glaubten, daß Christus diese Überlieferungen, die geschrieben vorhanden waren, gemeint habe, als er zu den Juden sprach: „Forschet in den Schriften, von denen ihr glaubt, daß ihr das ewige Leben darin findet, sie sind es, die Zeugnis von mir geben.“ (Joan. 5, 39.)
Die Aussprüche und Entscheidungen der Gemara dürfen nach der Meinung der Juden nicht geändert werden wegen der Hochachtung und Ehrfurcht, die man den Worten der Gesetzlehrer entgegenbringen muß. In dieser Hochachtung und Ehrfurcht bestärkte der göttliche Heiland das jüdische Volk, wie der heilige Evangelist Matthäus erzählt: „Jesus redete zu dem Volke und seinen Jüngern und sprach: Auf dem Stuhle des Moses sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer; darum haltet und thuet alles, was sie euch sagen, nach ihren Werken aber sollet ihr nicht thun, denn sie sagen es wohl, thun es aber nicht.“ (Matth. 23, 1—4.) Aus diesen Worten des göttlichen Heilandes geht hervor, daß man die Worte und Vorschriften auch jener Lehrer achten und befolgen muß, die kein heiliges Leben führen.
Nun befiehlt oder gestattet das göttliche Gesetz dem Judenvolke aber gar manches, was im Alten Bunde, zur Zeit der Vorbereitung auf das Evangelium und den Neuen Bund wohl zweckmäßig und gerechtfertigt war, jedoch im Neuen Bunde nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte. Ich will nur hinweisen auf die Abschließung Israels gegenüber den anderen Völkern, die sämtlich Heiden waren, die stille Duldung der Vielweiberei, die Einrichtung, daß ein Bruder die Frau seines verstorbenen Bruders zu sich nehmen soll, um dem Verstorbenen Kinder zu erwecken, die Entlassung der Frau von seiten des Mannes mittels eines Scheidebriefes, die Blutrache und die Sklaverei.
Dazu kommen auch noch Überlieferungen, die keineswegs göttlichen Ursprungs waren, sondern von Gesetzlehrern herrührten. Es sind Überlieferungen, von denen der göttliche Heiland sagt, daß diejenigen, die sie beobachten, Gottes Gebot übertreten. (Matth. 15, 3.) Die Juden legten auch diesen Überlieferungen und Satzungen verbindliche Kraft bei, und es war ein schwerer Vorwurf, den sie dem göttlichen Heilande machten, indem sie sagten, er hebe die Überlieferungen auf. Derselbe Vorwurf wurde auch dem Diakon Stephanus gemacht, und hierin lag ein Hauptgrund, warum er zum Tode verurteilt und gesteinigt wurde. (Act. 6, 14.)
Solange die Juden in Palästina wohnten und ihr eigenes Staatswesen hatten, konnten sie nach dem göttlichen Gesetze und nach ihren Überlieferungen leben, aber ganz anders gestaltete sich die Sache, als
Friedrich Frank: Die Kirche und die Juden. Manz, Regensburg 1893, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Kirche_und_Die_Juden.djvu/84&oldid=- (Version vom 31.7.2018)