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Seite:Die Gartenlaube (1883) 103.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)


Einen gänzlich verschiedenen Ton schlagen mehrere Gedichtsammlungen an, deren Verfasser verschiedenen Kreisen unseres modernen gesellschaftlichen Lebens angehören. Da sind Lieder und Balladen von Conrad von Prittwitz-Gaffron erschienen. Der Dichter gehört dem sangreichen Schlesien an: er ist Rittergutsbesitzer und Landesältester und sein Gut liegt in einem der anmuthigsten Kreise der schönen Provinz, in dem Reichenbacher, zwischen dem langen Bergrücken der Eule und der Berggruppe des Zobten, in einer an reizenden Fernblicken reichen Gegend. Er hat schon mehrere Gedichtsammlungen veröffentlicht, in denen er sich, in dem Streben nach edler Formschönheit, als Schüler Platen’s zeigt, wenn auch ein Hauch herrnhutischer Frömmigkeit in seinen Gedichten dem Griechenthum des baierischen Grafen fremd ist. Sie finden, verehrte Freundin, in der Sammlung einige volltönende Sonette und Oden, ein paar graziöse und leichtgeflügelte Lieder, wie dasjenige, welches den Frühlingsblumen gewidmet ist, und ein paar Balladen wie „Alexander und Poros“ mit sinnreicher Pointe und „des Odysseus Heimkehr“ im edlen getragenen Stil der antikisirenden Schillerschen Gedichte.

Ein anderer, den höheren Adelskreisen angehörender Dichter, Prinz Emil zu Schönaich-Carolath, erinnert uns in seinen neuen „Dichtungen“ vielfach an Alfred de Musset, besonders in den ersten poetischen Novellen: „Angelina“ und „die Sphinx“, hier und dort auch an Byron’s „Don Juan“. Die Lebensbilder in der ersten Erzählung sind in die Beleuchtung gerückt, in welcher die verlorenen Seelen in Lied und Novelle zu erscheinen pflegen. Einige grelle und wüste Lichter flimmern mit herein. Bedeutender noch ist „die Sphinx“: mit großer Kühnheit und in originellen Wendungen wird hier die dämonische Macht der Weiblichkeit geschildert; die Dichtung enthält sehr treffende prägnante Verse. Das Talent des Dichters hat einen genialen Zug. Sie werden zwar, verehrte Freundin, mit seiner Auffassung des ewig Weiblichen nicht einverstanden sein: dennoch werden Sie durch die eigenartigen, oft in kühnen Bildern sich ergehenden Verse des Dichters sich angezogen fühlen und auch widerwillig seinem Schwunge folgen.

Ein anderer Gedankendichter, der unter dem Pseudonym Curt Falkenau „Dichtungen“ herausgegeben hat, gehört Leipziger Patricierkreisen an. Das Bedeutendste in der Sammlung sind die Gedichte „Aus dem Tagebuche eines Einsamen“, poetische Rhapsodien, denen man einen kühnen Gedankenflug nachrühmen muß und die besonders in der Neigung, die weitschweifenden Reflexionen in nachdrücklichen Sentenzen zusammenzufassen, an die Dichtweise des Prinzen Carolath erinnern. Es sind nicht Producte einer formlosen, nebelhaft ausschweifenden Phantasie, ein Tadel, den der Dichter selbst, nach der Vorrede zu schließen, fürchtet: es sind Stimmungsbilder, aber es sind die Stimmungen eines das All erfassenden und in seine Tiefen sich versenkenden Gemüthes, das bisweilen mit den Göttern rechtet. Einzelne dieser Gedichte gehören in das Gebiet jener prometheischen Literatur, die sich wie ein rother Faden durch alle Zeiten hindurchzieht. Manches erinnert an Byron und Shelley. Die poetischen Absagebriefe an eine stolze Frau sind aus dem vollen Empfinden herausgeschrieben. Wenn sich hier und dort auch in diesen Gedichten jenes „Uferlose“ der poetischen Strömung zeigt, welches Rückert überscharf gerügt hat, welches aber rhapsodischen Ergüssen mehr oder weniger eigen sein muß, so findet sich doch auch Vieles in fester künstlerischer Umrahmung. Wie schön, maß- und klangvoll sind die folgenden Verse, mit denen das Gedicht „Erinnerung“ beginnt:

„Ergieße dich, du freier gold’ner Strom,
Du meiner Lieder unversiegte Quelle,
Ergieße dich! Es blutet mir das Herz
Von tausend Wunden, und sie heischen alle,
Wie todte Krieger noch ein Denkmal fordern,
Des Liedes Ewigkeit von meinen Lippen.
Aus jeder Wunde schaut mich ein Gefühl,
Ein längst vergang’nes, an, wie eine Leiche –
Wie ein verdorrter Zweig am grünen Stamm,
Der alle Jahre seiner Blätter Schmuck
Zu Boden sinken und vergehen sieht,
Und doch, nach einer kurzen Leichentrauer,
Von Neuem blüht und neuen Stürmen Trotz
Mit seinem unbezwung’nen Gipfel bietet.“

Eine wesentlich verschiedene Physiognomie tragen die Gedichte, welche ein Philosoph und Universitätslehrer, Moritz Carrière, soeben veröffentlicht hat: „Agnes, Liebeslieder und Gedankendichtungen“. Der bekannte Aesthetiker und Culturhistoriker hat diese Gedichte seiner verstorbenen Frau Agnes gewidmet, die ihm engverbunden war im Glauben an das Ideal, das er in der „Sittlichen Weltordnung“ und anderen Schriften verherrlicht hat. Es ist dies eine Sammlung von poetischen Ergüssen, wie sie nicht nur die Lebensschicksale des Dichters, sondern auch sein geistiges Schaffen begleitet haben; sie sind auf demselben Boden erwachsen, gleichsam um die Fruchtbäume sich schlingende Blüthenranken. Solche Zerrissenheitsstimmungen, wie bei dem Prinzen Carolath und Falkenau, würde man bei Carriére vergeblich suchen: es liegt im Ganzen, trotz einiger elegischen Klänge, eine milde und freundliche Beleuchtung auf diesen poetischen Gaben; oft spricht sich in ihnen ein frohes Genügen aus und der Glaube an den Fortschritt der Menschheit zieht sich wie ein bald leiser, bald lauter verklingender Hymnus durch diese Verse, die zum Theil antiken Mustern nachstreben. Von den italienischen Reisebildern verdient „Taormina“ den Vorzug, eine gedankich schön gegliederte schwunghafte Ode; von den Geschichtsbildern ist die ältere Dichtung: „Die letzte Nacht der Girondisten“ bereits von früher rühmlich bekannt.

Auch ein Theologe erscheint unter den lyrischen Kränzespendern, Hermann Hölty, mit seinen „Gesammelten Dichtungen“, die auch italienische Reisebilder in Prosa und zwei biblische Tragödien: „König Saul“ und „Lonoda“ enthalten. Der Verfasser ist ein liebenswürdiger Poet, der keineswegs die Kanzel auf den Parnaß mit hinauf schleppt. Seine „Gedichte“ enthalten Naturbilder von stimmungsvoller Färbung, besonders Seestücke und Marinebilder, einige kurze sinnige Romanzen und weiter ausgeführte Balladen aus der deutschen Götterwelt.

Auf eine sehr anmuthige Neudichtung muß ich Sie noch hinweisen, verehrte Freundin. Es ist das „König Rother“ von Emil Taubert, dem Verfasser des „Antiquar“ und anderer gefühlvollen und spannenden Novellen, welche in „Unsere Zeit“ zum Abdruck kamen. Den Stoff des mittelalterlichen Gedichtes hat der neue Poet geschmackvoll umgebildet und jene schleppende Wiederholung vermieden, welche dem alten Gedicht einen unbeholfenen Charakter gab. König Rother wirbt um die schöne Helene, die Tochter des Königs Constantin von Byzanz; doch seine Boten, die sieben Söhne seines Waffenmeisters, des Herzogs von Meran, werden in’s Gefängniß geworfen. Da kommt er selbst mit einem Geleite gewaltiger Riesen nach Byzanz als geächteter Vasall Rother’s, weiß sich der Prinzessin zu nähern, besiegt den König von Babylon und entführt dann die Geliebte, der er eine Niederlage der byzantinischen Truppen vorspiegelt und vorgiebt, sie vor dem bedrohlich heranrückenden Feinde retten zu wollen. In dem alten Gedichte wird sie noch einmal nach Byzanz zurück gebracht, noch einmal mit List entführt. Bei Taubert wird nur der Versuch gemacht, das Heimweh und die Liebe zum Vater in ihr wachzurufen: doch König Rother ruft sie zurück durch heiße Liebeslieder, und der Vater selbst, schiffbrüchig und des Throns beraubt, sucht und findet Trost bei seiner Tochter. Die Erzählung selbst, oft stimmungsvoll beleuchtet und an glücklichen Bildern reich, ist durchwoben mit Liedern, wie das seit Scheffel und Julius Wolff Mode geworden, und diese Lieder sind von großer Innigkeit.

Sie sehen, verehrte Freundin, welch eine Zahl verschiedenartig gefiederter Sänger mit den verschiedensten Tonweisen im deutschen Dichterwald ihr Lied ertönen läßt; fangen Sie sich den Liebling unter ihnen ein, dessen Sangesart Ihnen am meisten das Herz bewegt.




Blätter und Blüthen.


Bei der Kartenschlägerin. (Abbildung S. 101.) Im ganzen Reichthum aller Sprachen der Welt giebt es kein zweites Wort, dessen Bedeutung auf die Herzen und Geister der Menschen aller Zeiten und aller Stände und Bildungsgrade einen mächtigeren Einfluß ausgeübt hätte, als – das Geheimniß. Vor ihm ist keine Ruhe, kein Stillstand möglich gewesen von den Tagen des ersten Menschen, der nach dem Apfel der Erkenntniß griff, bis heute. Vor dem Auge der ganzen Menschheit hängt sein Schleier nieder; Staaten und Völker stehen oft zagend vor ihm, und wie unzähliger Enthüllungen sich auch der Menschengeist erfreut, immer und immer sinken neue Schleier nieder, die zu neuem Vorwärtsdringen anspornen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_103.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)