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Seite:Die Gartenlaube (1880) 710.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Werfen wir noch einen letzten Blick auf das weite Schlachtfeld! Acht Kilometer östlich von Metz erhebt sich bei Noisseville das Denkmal des 1. Armeecorps. Ein schlafender Löwe ruht auf einem breiten mit sechs Reliefsäulen verzierten Sockel. (Vergl. unser Bild auf Seite 705.) Durch dieses Denkmal werden wir an die blutige Schlacht vor der Capitulation erinnert, an den ersten und letzten Durchbruchsversuch der französischen Rheinarmee am 31. August und 1. September 1870. Während die deutsche Hauptarmee in einer Reihe von siegreichen Gefechten gegen Sedan vordrang, versuchte gleichzeitig Bazaine mit 120,000 Mann und 600 Geschützen den Einschließungsgürtel der Deutschen zu sprengen, von Metz abzurücken und sich mit Mac Mahon zu vereinigen. Aber 60,000 Deutsche mit 300 Geschützen zwangen die doppelte Uebermacht des Feindes zum Rückzuge. In den zweitägigen Kämpfen betrugen die Verluste der Deutschen 128 Officiere und 2358 Mann an Todten und Verwundeten. Das war die letzte größere Schlacht bei Metz.

Hier nehmen wir von den Schlachtfeldern und unsern seit zehn Jahren in wiedererkämpfter deutscher Erde schlafenden Tapfern Abschied. Wir verlassen die blutgetränkten Gefilde mit der stolzen Ueberzeugung: So lange in deutschen Gauen noch Männer geboren werden, wie die Helden von Vionville, Gravelotte und St. Privat, so lange wird kein Feind, woher er auch kommen mag, dem deutschen Vaterlande je wieder einen Stein rauben können.

     Metz.

Löhle.




Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf von Gottschall.
XXIII.


Die Lesesaison hat begonnen, verehrte Freundin; in eintöniges Grau kleidet sich der Himmel, der über dem baltischen Meere ruht, und eintönig an den langen düsteren Abenden rollen und branden die Wogen an’s Gestade. Ich weiß es, daß Sie nie das Gefühl der Einsamkeit überkommt, auch wenn kein willkommener Besuch auf Ihrem Schlosse eingekehrt ist, auch wenn Sie wochenlang nicht zu Gesellschaften bei Ihren Gutsnachbarn eingeladen worden sind. Sie sind nicht einsam; denn Sie leben im Verkehr mit den großen Geistern aller Zeiten. Glauben Sie nicht, daß ich Sie für eine Spiritistin und Geisterklopferin halte; die durch ein Medium herbeibeschworenen großen Geister haben sich des Ruhmes, den sie auf Erden sich erworben, niemals würdig gezeigt, sondern auf alle Fragen, die man an sie richtete, eine so hülflos gestammelte Auskunft ertheilt, in Vers und Prosa sich so überaus trivial ausgedrückt, daß man befürchten müßte, in geistiger Hinsicht nach dem Tode einige Bänke herabgesetzt zu werden, wenn sich diese Bewohner der Schattenwelt wirklich durch richtige Pässe als die Träger jener großen Namen legitimiren könnten. Nein, Sie verkehren nur mit den Geistern Ihrer Bibliothek, wozu es keines Mediums bedarf, aber auch keiner Legitimation; denn jedes Wort, das diese Unsterblichen sprechen, ist eine Bürgschaft ihrer Unsterblichkeit. Wie können Sie einsam sein, wenn Shakespeare und Dante, Schiller und Goethe Ihre geistigen Genossen sind?

Doch auch der mitlebenden Dichter und Schriftsteller bleiben sie eingedenk; Sie prüfen und wählen unter den Werken der Zeitgenossen, und Ihre Lieblinge sind nicht immer diejenigen der Mode. Mancher große Erfolg, von dem die Zeitungen berichten, befremdet Sie; manches dichterische Werk, über welches die Journale zur Tagesordnung übergehen, erregt Ihren Antheil; sie wundern sich über den Widerspruch zwischen Ihrem eigenen Geschmack und der allgemeinen Schätzung und bitten mich um Erklärung dieser räthselhaften Erscheinung.

So folgen Sie mir einmal auf den Büchermarkt, verehrte Freundin! Nicht zu den einzelnen Schriftstellern und ihren neuesten Erzeugnissen will ich Sie diesmal führen; wir wollen uns nur nach den Sorten erkundigen, welche der Buchhandel auf Lager hat, und nach ihrem Absatz. Ich bin nicht so ungalant, Sie dorthin zu führen, wo die gestrengen Facultäten ihre Bücherbuden aufgeschlagen haben und ihre dicken Bände zur Schau stellen. Gehen wir an ihnen vorüber, und geben wir uns den Anschein, so geringschätzig von ihnen zu denken wie Faust, der doch auch ein großer Gelehrter war, freilich nur hinter den Prosceniumslampen! Sie selbst sind zwar eine wohlunterrichtete und geistreiche Dame, aber die Facultäten haben keine Ehren auf Ihren Scheitel gehäuft, wie auf denjenigen der mehrfach promovirten Doctorin, deren Name im innern Hof der Universität von Padua mit unverlöschbaren Zügen in eine Gedenktafel eingegraben ist; Sie sprechen weder Griechisch noch Lateinisch, wie Göttinger Professorentöchter; ja, Sie sind nicht einmal eine moderne Studentin, und ich bezweifle, daß Sie jemals in Ihrem Leben einen Commers mitgemacht haben, sei es ein Commers beiderlei Geschlechtes oder ein solcher, wo das genus femininum allein die Farben und die Kosten trägt. Gehen wir vorüber! Sie ahnen vielleicht nicht, wie viele Seiten des Meßkatalogs wir damit überschlagen; denn von den mehr als zehntausend Werken, die er leider! alljährlich zu verzeichnen hat, gehört bei weitem mehr als die Hälfte den eigentlichen Fachwissenschaften an. Die deutschen Fachgelehrten sind fleißig wie die Seidenwürmer; manche von ihnen spinnen Fäden von tausendachthundert Ellen Länge aus sich heraus und verwandeln sie in einen Cocon, in den sie sich einpuppen, um von hier aus dann in freiem Fluge zur Unsterblichkeit sich aufzuschwingen– es ist freilich nicht Alles Seide, was sie spinnen.

Jetzt treten wir in den Kreis, welcher der großen Leserwelt geöffnet ist; da begegnen wir zuerst den Lyrikern. Sie haben so oft vom deutschen Dichterwalde gelesen, in welchem es von allen Zweigen singt; an Gesang fehlt es nicht, aber wie Wenige wollen noch in diesem Dichterwalde spazieren gehen! Der Lyriker ist für sich, für seine Freunde und besonders für seine Geliebte die geborene Nachtigall, für den Buchhändler aber ist er der geborene „Krebs“ – seine Werke kehren nach der Messe in dicken Ballen wieder dorthin, von wo sie ausgegangen sind. Es ist wahr, viele zwitschern gar zu nichtssagend, und auch manche der besseren haben wie naßgewordene Canarienvögel ihre Stimme verloren und ihren schmetternden Gesang verlernt; auch hat sich der deutsche Dichterwald nur zu oft in einen Vogelladen verwandelt, wo sich Amaranthfinken und Paradieswittwen und alle möglichen, oft etwas verfärbten ausländischen Prachtvögel tummeln: ich meine die zahllosen Nachdichtungen, Aneignungen, Uebersetzungen fremder Dichtungen. Dennoch bleibt es ein bedenkliches Zeichen der Zeit, daß der Sinn für Lyrik von Jahr zu Jahr mehr erlischt; die Lyrik ist aus der Mode gekommen, und das sieht bei der heutigen Zeitrichtung fast einem Todesurtheil ähnlich; denn noch nie hat in der Literatur die Mode eine größere Rolle gespielt. Wer unterhält sich in den Salons heutzutage noch von lyrischen Dichtern? Höchstens geschieht dies am Pianoforte, beim Hervorsuchen der Notenblätter, wenn es sich um das neucomponirte Lied eines Poeten handelt. Doch auch dann sind es Heine, Geibel und andere Dichter einer früheren Zeit oder Dichter, die wenigstens in einer früheren Zeit sich einen Namen erworben haben.

Einige Günstlinge des Glückes haben es sogar zu einer diamantenen Jubelfeier gebracht, wie Bodenstedt mit den Auflagen seines Mirza-Schaffy. Andern wiederum ist das Glück nicht treugeblieben, und der Beifall, den ihre ersten Gedichtsammlungen fanden, ist den späteren gegenüber erlahmt, wie dies bei Hermann Lingg der Fall ist. Wenn einige Sänger sich neuerdings ein größeres Publicum erwarben, so waren es die Vertreter einer poetischen Jovialität und lebensfrischen Munterkeit wie Victor von Scheffel und Julius Wolff, der Dichter des „Rattenfänger von Hameln“, aber alle jungen Talente, die, von höherem Schwung getragen, den classischen Idealen des Gedankenreichthums und der Formenschönheit nachstreben, werden kaum ein Echo finden in dieser von tausend Geräuschen betäubten Zeit. Und doch sollte unsere Schulbildung, welche den Geist der Jugend am Studium der classischen Muster nährt, diese gerade darauf hinführen, daß sie dem verwandten Streben der Gegenwart eine begeisterte Theilnahme entgegenbrächte.

Hier ist aber eine große Lücke in unserer Erziehung: es fehlt jede Nutzanwendung auf die Gegenwart. Die classische Epoche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_710.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)