Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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die Wirklichkeit gänzlich hinter sich lassen und auf den Flügeln der Phantasie in ein erdichtetes besseres Reich flüchten zu sollen. Das Wirkliche, sagten sie, ist gewöhnlich und unpoetisch; nur das Ungewöhnliche, Unwirkliche und Erdichtete ist poetisch. So flog man entweder zu einer erfundenen Märchenwelt empor, oder man träumte sich aus dem Jetzt und Hier in entlegene Zeiten und Oerter, in die Fernen des Mittelalters und des Orients, die man leicht zu einem Paradiese gestalten mochte. Doch auch das Schaurige und Gespenstige war willkommen. Wer Witz hatte, gefiel sich in ironischer Hervorkehrung des Gegensatzes von Ideal und Wirklichkeit; die Thatkräftigeren ermahnten zu fröhlichem Kriege gegen die Philister. Denn auf die Dauer konnte man sich doch nicht in jenen luftigen Höhen erhalten; da geschah’s wohl, daß einer beim Herabsteigen einen der goldenen Strahlen der Phantasie gerettet hatte und nun die feingeputzten Damen und Herren des Salons damit beleuchtete. Das Feierliche und Elegante, gemischt mit dem Reize des Romantischen, das war freilich unwiderstehlich.
Doch hat von dieser Romantik nicht blos die Welt der Nixen und der Gespenster profitirt. Die andere Seite der Romantik pflegte alle die feinen Schattirungen des subjectiven Empfindens. Mit oder ohne jene ätherische Welt voll schimmernder Einbildungen brachten die Romantiker zu reizvollsten Ausdruck die ganze Stufenleiter der lyrischen Stimmung, welche der geniale Poet vor allen anderen Menschenkindern reich und lebendig empfindet, besonders gern die zarten, duftigen, traumhaften. Nirgends auch sehen wir die Poesie des Kinderherzens so zart nachempfunden, wie bei den Romantikern, und ihre Neigung für volksthümlichen Gesang hat ihnen oft Töne voll herrlicher Innigkeit eingegeben. An musikalischen Formen hat die romantische Schule nicht eigentlich Neues erfunden, sondern nur vorhandene mit eigenthümlichem Inhalt erfüllt und unwillkürlich erweitert. Sie benutzt außer der Sonate mit Vorliebe die kleinen Formen des Tanzes und des Liedes.
So stehen sich – kann man zusammenfassend sagen – dem Schönheitsideale nach die drei Hauptrichtungen gegenüber als Formschule, Kraftschule und Stimmungsschule. Angesichts dieser Merkmale für die drei Richtungen in unserer gegenwärtigen Musik liegt eine Zusammenstellung derselben mit den Hauptgattungen der Poesie nahe, welche Künste ja ohnehin beide so vielfach einander die Hand reichen. Mit dem epischen Dichter hat der conservative Musiker die objective Ruhe und behagliche Breite gemein, mit dem lyrischen der Romantiker die Phantasie- und Stimmungsseligkeit des genialen Subjects, mit dem Dramatiker der neudeutsch gesinnte Tonkünstler die feurige Energie der Leidenschaft und die kernige Gewalt des Ausdrucks. Damit steht im Zusammenhang, daß jeder der Drei ein bestimmtes Publicum im Auge hat. Während die antikisirende Partei, in ihrer entschiedenen Neigung zur Kirchenmusik, sich an die Gemeinde wendet, und die neudeutsche, die gern zu großen Mitteln greift, vom Podium des Concertsaales oder von der Bühne herab zum Volke spricht, bewegt sich die romantische am liebsten und sichersten auf dem Feld der Kammermusik, die ihre Gaben einem kleinen Kreise Auserwählter zu bieten pflegt. So könnte man die drei Richtungen auch als Schulen der Chor-, Orchester- und Kammermusik bezeichnen.
Es soll natürlich nur behauptet sein, daß jede Partei eine gewisse Tendenz zu diesem bestimmten Gebiete habe und auf ihm ihre größten Triumphe feiere, nicht, daß sie sich völlig auf dasselbe beschränke. Wir besitzen von Brahms herrliche Kirchencompositionen, von Liszt großartige Oratorien und Messen, von Brahms und Rubinstein bedeutende, von Volkmann tüchtige, von Gade ansprechende Symphonien, von Kiel werthvolle Kammermusikwerke, aber man kann nicht sagen, daß der Schwerpunkt ihres Schaffens in diesen Werken liege. In der Gattung des Liedes, das von allen Richtungen gepflegt wird, verräth die jeweilige Behandlung deutlich die Eigenthümlichkeit der Schule: den Liedern der Conservativen haftet etwas von der beruhigten und gehaltenen Art der Oratorienarie an; dem Schmerz ist nur ein sanfter, gleichsam der Tröstung gewärtiger Ausdruck gestattet, und über der Freude, die sie singen, schwebt ein elegischer Hauch; die Gesänge der neudeutschen Schule nähern sich der Beweglichkeit und Schlagkraft der dramatischen Scene und die Clavierbegleitung möchte es dem Orchester gleichthun; das eigentliche Stimmungslied bleibt die Domäne der Romantiker. Bemerkenswerth ist, daß Brahms keine Oper geschrieben hat, Schumann’s „Genoveva“ nicht recht durchgedrungen ist und die Opern von Rubinstein und Holstein, so schätzbar sie sein mögen, zugestandenermaßen des dramatischen Zuges entbehren.
Aus der vorstehend gegebenen Charakteristik der drei Richtungen in unserer modernen Musik ergiebt sich unmittelbar, daß jede dieser drei Richtungen eine mehr oder minder bedeutsame Seite des Schönheitsideals zu verwirklichen strebt, sodaß keiner von ihnen eine relative Berechtigung abgesprochen werden darf. Die Berechtigung würde erst dort in Frage gestellt sein, wo eine Partei ihr eigenes Kunstideal für das absolut höchste und einzige, den von ihr mit besonderer Liebe ergriffenen Theil der Schönheit für das Ganze erklärt. Mag man es dem schaffenenden Künstler zu Gute halten, wenn er den Standpunkt der andern Richtung ablehnt – Publicum und Kritik dürfen diese Einseitigkeit nicht theilen. Wir Empfänger des Kunstwerks, selbst wenn wir einer bestimmten Richtung uns innerlich verwandt fühlen und sie im Herzen begünstigen, haben die Pflicht, uns den Blick frei zu halten für alles Schöne, in welcher Gestalt es immer erscheine. Richard Wagner und Johannes Brahms verstehen einander nicht, und begehen kein Unrecht, wenn sie einander nicht verstehen. Franz Liszt aber versteht beide. Dieser Lisztische Standpunkt sei unser Muster! Oder kann nicht ein und derselbe Mensch Shakespeare und Calderon und die Griechen bewundern? Kann er nicht Goethe verehren, gleichzeitig Paul Heyse lieben und Bret Harte gern lesen?
Um das volle Verständniß für unser Thema zu gewinnen, erübrigt es, einen Blick auf das Werden, auf den historischen Zusammenhang jener drei Richtungen zu werfen. Die jüngste unter den drei Parteien ist die neudeutsche; sie zählt heute, rund gerechnet, dreißig Jahre; die romantische ist über zwanzig Jahre älter. Nach Beethoven’s Tode (1827) sehen wir die Pfleger deutscher Tonkunst sich in zwei Lager spalten, ein conservatives und ein fortschrittliches; jenes auf die Classiker bis Beethoven zurückgreifend, dieses das Banner Schubert’s schwenkend. Die erstere Gruppe, ohne Verständniß und Sympathie für den aus der Poesie in die Musik hineinwehenden neuen Geist, verlangte, daß man in aller Form den alten Inhalt, denen beiden sie ewige Gültigkeit beilegte, wiederhole. Das empörte die junge Welt, welche das Bedürfniß empfand und sich berechtigt fühlte, Neues auszusprechen. Tieck, Fouqué, E. T. A. Hoffmann, Chamisso, die schwäbischen Dichter, Wilhelm Müller, Rückert, Lenau, vor Allen aber Eichendorff und Heinrich Heine hatten die Blicke der Welt auf Dinge gelenkt, die bis dahin wohl bemerkt, aber nicht hinreichend gewürdigt worden waren. Das verstohlene Murmeln des Baches, das geheimnißvolle Flüstern des Waldes, den magischen Zauber des Mondlichts hatte man
früher zwar empfunden und benutzt, aber nie so schwelgend genossen wie jetzt. Man hatte ihnen nur die Begleitung anvertraut; nun ließ man sie die Hauptstimme singen. Der Zauberstab der Romantik weckte Mönche und blinkende Ritter aus mittelalterlichem Schlafe, rief die bunten Farben und klingenden Reime des Morgenlandes zu ihrem Dienste herbei und ließ dem Wasser schöne blasse Weiber entsteigen, gutartige, um mit dem Dichter zu kosen, böswillige, um den Ritter seiner Dame zu entführen. Man lauschte sehnsuchtsvoll den Klängen des Waldhorns und des Mühlrads, blickte mit wehmüthiger Andacht zur Burgruine empor und meinte hinter jeder Klostermauer die Seufzer verrathener Liebe zu vernehmen. Nie hatte man so unglücklich geliebt und nie sich so berauscht an diesem Unglück. Mit den Schmerzen der ganzen Welt belud der Dichter seine bange Seele: jeder Vers war von Herzweh durchbebt und von Mondschein übergossen. Das alles wollte nun componirt werden und wurde componirt. Kein Wunder, daß denen, die in dieser schimmernden und bangen Welt heimisch waren, die Kunst des gewaltigen Beethoven fast ebenso unverständlich blieb, wie den Herren mit Zopf und Perrücke. Diesen war er zu leidenschaftlich, jenen zu groß und gerade. So wählte man einen Anderen zum Führer, der Beethoven ähnelt, wie die Schwester dem Bruder. Schubert hatte sechs Gedichte von Heine in Musik gesetzt, und bald war das „Buch der Lieder“ auf jedem Clavierpult zu finden; und wie Schubert das Lied aus den Banden des Bänkelgesangs befreite, so führte er den Tanz, den er zierlichere Schritte lehrte, aus der Schänke in’s Familienzimmer. Mendelssohn benutzte den gemüthlichen Tanz des Wiener
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_191.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)