Karl Kraus (Hrsg.): Die Fackel Nr. 301–302 | |
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zurück. Vielmehr entwickelten sich jene (im Traume) organisch weiter, nur daß der Faktor meiner dritten Schwester in ihnen von vornherein gestrichen war. Als ich dann erwachte, war es mir, als würde ich von einer ungeheuren Feder emporgeschnellt. Eine andere Ebene nahm mich auf, auf der sich nun auch die verloren gegangene Schwester befand. Nur schwer konnte ich mich an die Vorstellung ihrer Existenz gewöhnen. Nach und nach aber fiel mir die ganze Wirklichkeit wieder ein und ich wunderte mich dann fast gar nicht mehr, als ich sie in Person sah und sie mir zunickte.
Unlängst ging es mir umgekehrt. Ich lernte im Traume meine vierte (etwa vierzehnjährige) Schwester kennen. Auch dies ist wieder falsch ausgedrückt, denn ich lernte sie nicht kennen, sondern bewegte mich in einer Welt, in der wir beide seit jeher heimisch waren. Anfangs benahm ich mich jedoch, wie das begreiflich ist, verwirrt und ungeschickt. Ich bemerkte sie mit Befremden, sie kam aber rasch auf mich zu, denn ich war gerade von einem Spaziergange zurückgekehrt. Zutraulich legte sie den Arm um meinen Hals und küßte mich. Ich betrachtete aufmerksam ihre weiße Stirn, ihre blauen Augen, ihr – wie immer – sehr ernstes Gesicht. Es fiel mir auf, daß sie einen großen Hut trug. Eli … Eli … stotterte ich und dann fand ich den Namen: Elisabeth! Sie sprach freundlich mit mir und half, ohne es zu wissen, meinem verdunkelten Gedächtnisse nach, so daß es sich, wie es in solchen Fällen zu sein pflegt, rasch, ja blitzartig erhellte.
Nun übersah ich die Ereignisse ihres Lebens und bemerkte, wie sie sich lückenlos, was Gegenwart und Vergangenheit anbelangt, in die gegebenen Verhältnisse fügten. Ihr Faktor war in die Rechnung eingestellt. Da ich noch immer auf der Hut war, so erstaunte ich anfangs darüber sehr. Bald aber wurde dies für mich bedeutungslos. In demselben Maße, in dem ich das Bewußtsein und den Einwand des Traumes mit Verachtung von mir streifte, ermaß ich die Nebensächlichkeit jener logischen und doch zufälligen Beziehungen. Ihre Umschaltung war selbstverständlich, ein technischer Handgriff, weiter nichts. Alle Dignität beschränkte sich auf die Person, kam in ihrem Gefolge und lebte geradezu von ihrer Gnade.
So durch die Kraft des Willens, der seine Dimension verdoppelte,
Karl Kraus (Hrsg.): Die Fackel Nr. 301–302. Die Fackel, Wien 1910, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Fackel_Nr._301%E2%80%93302.djvu/36&oldid=- (Version vom 31.7.2018)