Anonym: Edda | |
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Sinn des Liedes läßt sich dahin angeben, daß die Götter in dem Eintritt der Winterzeit ein Sinnbild des nahenden Weltuntergangs erblicken, da sie beim Abfallen des Laubes von trüben Ahnungen ergriffen werden, ein Gefühl, dessen auch wir uns nicht erwehren. In der Zeit des Laubfalls scheint uns die Natur zu altern und wir mit ihr, was D. 56 so ausdrückt, daß die Götter bei Iduns Entführung grau und alt werden. Wenn Idun in Gestalt einer Nuß zurückgebracht wird, so deutet dieß Uhland schön auf den Samenkern, aus dem die erstorbene Pflanzenwelt alljährlich wieder aufgrünt; die andere Lesart, wonach sie als Schwalbe zurückkehrt, hat einen verwandten Sinn, wenn gleich nach unserm Sprichwort Eine Schwalbe noch keinen Sommer macht. Da nach unserm Liede Idun von Iwalt stammt, den wir aus D. 61 als den Vater der kunstvollen Zwerge kennen, die Sifs Haar schmiedeten, so stellt sie die grüne Blätterwelt gleich den in Sifs Haaren verbildlichten goldenen Ähren als das wunderbare Erzeugnis der unterirdisch wirkenden Zwerge dar. Uhland 125.
Aus diesem allgemeinsten Sinn unseres Liedes werden wir auch über das Einzelne Aufschluß erlangen. Nun der Name Odhins Rabenzauber bleibt eine nicht mit Sicherheit zu lösende Rune. Aufklärung sollen wir darüber aus Str. 3 empfangen, deren Sinn aber selbst erst der Erwägung bedarf. Nach ihr macht sich Hugin, einer von Odhins Raben, auf, die Himmel zu suchen, da die Götter von seinem längern Verweilen Unheil besorgen. „Raben,“ sagt Uhland, „durch eine besondere Opferweihe dazu bereitet, ließ man vor dem Gebrauche des Magnets vom Schiffe auffliegen um die Nähe des Landes zu erforschen. Rabenzauber hieß nun wohl die Beschwörungsformel, wodurch diese Vögel zu solchen Diensten geweiht wurden und dann auch die Rabensendung überhaupt, womit sich der Name des Liedes erklärt. Von der Wiederkehr Hugins, des nach Rettung ausgesandten göttlichen Gedankens, schweigt dasselbe. Ein zweiter fehlender Theil mochte das Ergebniss des Rabenflugs und die endliche Erlösung Iduns darstellen.“
Wir verhehlen den Zweifel nicht, ob diese Vermuthung sich mit den Worten, „den Himmel zu suchen,“ verträgt, die eher auf des Raben Rückkehr als auf seine Aussendung zu gehen scheinen. Auch hängt bei solcher Annahme die andere Hälfte der Strophe mit der ersten nicht zusammen. Eine Verbindung läßt sich nur herstellen, wenn man annimmt, daß Hugin zu den Zwergen Dain und Thrain gesandt war, um ihren Ausspruch zu erfragen, der aber so ausfiel, daß er schweren, dunkeln Träumen verglichen
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/378&oldid=- (Version vom 13.5.2018)