Rechts zieht sich aus dem Thale ein Weg in die Dorfkirche hinter Lindenbäumen empor. Die Liebenden sind sich begegnet. Hände und Lippen haben sich zu zärtlichem Drucke vereinigt. Sein Haupt ist dabei empfindungsvoll seitwärts hinübergebeugt, so daß ihr Gesicht im Profil sich daran drängt. Beide sind sonntäglich angethan, er in der Tracht der damaligen Friauler. Während er bei der Begegnung den Hut vom Kopfe genommen, welchen die Linke noch wie zum Gruße zurückschwenkt, hat sie Bündel und Stab von sich geworfen. Er hat an der Seite Hirtenflöten und ein Messer am Gürtel, und ist ein schmucker, rüstiger Bursche, welcher sein Flöten- und Liebesspiel mit Messerstichen zu vertheidigen das Herz hat. Neben ihm steht sein treuer Hund. Wie er zum Kusse, so sind die Heerden zur Tränke geeilt. Auf der Seite des Mädchens schüttet ein alter Hirt das Wasser in den Trog, weiter vorn sitzt ein zweiter, welcher den Stein vom Brunnen gewälzt hat und auf die Glücklichvereinten blickt. Ist er eifersüchtig? Schwermüthig gewiß. Rechts, in der Mitte der Heerde, duelliren sich zwei eifersüchtige Widder! – Steht die Jungfrau in diesem Zeichen? – Giorgione war gern symbolisch.
Diese Richtung, welche der geniale Giorgione der Kunst aus dem Cultus hinaus in das wirkliche Leben gegeben hat, gewann außer Tizian noch einen
Julius Mosen: Die Dresdener Gemälde-Galerie. Arnoldische Buchhandlung, Dresden und Leipzig 1844, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Dresdener_Gem%C3%A4lde-Galerie_(Mosen).pdf/59&oldid=- (Version vom 31.7.2018)