ganz ungewöhnliche musikalische Empfänglichkeit und Verständnisfähigkeit für interpretatorische, reproduktive Aufgaben, – sie erklären sich aus einer tiefen Gebundenheit des Trieblebens. Die Frau ist nicht aktiv, nicht spontan. Sie ist immer und überall „rationaler” als der Mann. In ihr dokumentiert sich jene überlegene Rationalisierung des Trieblebens, die der Mensch ausschliesslich der Schule der Not, nur langem, geschlechterlangem Leiden und Drucke verdanken kann… Das gleiche Verhältnis der musikalischen Anlage, das zwischen Frau und Mann besteht, findet sich wieder in den Begabungen „primitiver” und „später” Kulturen, d. h. im Verhältnis der noch ungebundenen, rohen und der schon rationell geschulten und durch Überlegung gehemmten Kulturvölker. – Je intellektuell vergeistigter und disziplinierter der Volksschlag wird, um so auffallender pflegt die musikalische Schöpferkraft hinter rezeptiven Musikanlagen zurückzutreten. Man denke an die musikalische Veranlagung der Engländer. Sie sind die intellektuellste und geistigste aller Nationen; aber sie sind musikalisch fast vollkommen unschöpferisch und doch zugleich von einer Zuneigung und Begeisterung für Musik, die oft lächerliche, exzentrische Formen annimmt… Betrachten wir nun aber die grossstädtische Musikwütigkeit unter dieser physiologischen Perspektive, dann könnte man bei dem Klavierspiel und Gesang seines Nachbarn und seiner Nachbarin oft auf allerlei besser zu verschweigende Gedanken kommen…
Eine einzige Bemerkung will ich mir zum Schluss nicht versagen: Man beachte, welch eigentümliches, noch unentdecktes gesetzliches Verhältnis obwaltet zwischen dem allgemeinen Klavierspiel und Gesangsbetriebe einerseits und dem Geschrei von Wickelkindern und Säuglingen andererseits. Wenn man dem einen Geräusche glücklich entronnen ist, dann gerät man mit Sicherheit in das andere hinein. Wo die eigentlichen „Proletarier” wohnen, in den Fabrikvierteln, im Osten und Norden der Städte, da ebbt in der Tat die Klavierpest und Gesangsseuche ganz beträchtlich ab. Dafür aber wird man dort von früh bis spät durch rasendes Kindergeschrei dafür abgestraft, dass man auch selber einige Monate seines Lebens so geschrieen hat. Wohnt man dagegen in den Westvierteln, unter den sogenannt „besser Bemittelten”, dann findet man, dass der Kinderlärm im ganzen dort freilich beträchtlich geringer ist, dafür aber übt der noch unbesteuerte Emotionskasten, das „Piano” oder „Leiserchen” eine kaum zu beschreibende Tyrannei aus. Richtige subumbilikale Anfälle, stundenweiser Musikraptus, Ovarialklänge links, Testalklänge rechts. Sämtliche müssiggehende und gelangweilte Damen der Umgegend, alle Hagestolze,
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/74&oldid=- (Version vom 31.7.2018)