Um die Tage aber zu füllen, hatte man geistige Interessen, schwärmte für Walter Scott, betrieb Bildung in einer milden Form. Auch Dorothee wurde damit versehen. Wechselnde ausländische Gouvernanten widmeten sich dieser Aufgabe. Mademoiselles und Misses, die am Firmament ihrer Kindheit vorüberzogen. Denn Kenntnis verschiedener Sprachen galt als unentbehrlich, obwohl es fraglich schien, wo sie praktisch angewendet werden würde. Tanzen wurde Dorothee beigebracht, Tirolienne und Menuett, und auf dem neuen schmalen Mahagoniflügel von Gothow in Riga mußte sie, unter Aufsicht der ihr oft als wahre Quälgeister erscheinenden Ausländerinnen, spielen lernen. Im Bombasinkleidchen, aus dessen Puffärmeln die bloßen Ärmchen hervorkamen, saß sie da und übte unverdrossen Hummel, Schubert und Webers „Aufforderung zum Tanze“, bis daß ihr kleines Gesicht zwischen den Löckchen, die gerade und ordentlich über die Öhrchen hingen, ganz rot wurde.
Am liebsten entfloh sie dem allem in den großen Garten. Da verbrachte sie ihre schönsten Stunden. Denn wie der Märchensaal vielleicht der fremdeste, so war ihr der Garten der heimischste Ort im ganzen heimisch vertrauten Burkahnen. Für ihn empfand sie ein so starkes Gefühl der Zugehörigkeit, daß ihr manchmal war, als sei sie selbst eines seiner Pflänzchen. Sie vermochte nicht sich vorzustellen, daß es irgendwo einen schöneren Garten geben könne.
In seiner Mitte auf einem Rondell mit großen Fliederbüschen stand eine alte steinerne Sonnenuhr.
Elisabeth von Heyking: Zwei Erzählungen. Philipp Reclam jun., Leipzig [1918], Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwei_Erz%C3%A4hlungen_Heyking_Elisabeth_von.djvu/80&oldid=- (Version vom 31.7.2018)