geschlungen, die unter knorrigen Bäumen zu beiden Seiten des Eingangstores seit Jahrhunderten Wache stehen. Nun half er der Reisenden, die sich aus dem Sattel herabgleiten ließ.
Da kam ihr auch schon die Freundin aus dem Tempelgelände entgegen. »Sei mir willkommen im Tempel zu den späten Glückseligkeiten«, sprach sie mit leiser, süßer Stimme. Und dann schauten die beiden sich einen Augenblick fragend an, wie es Menschen tun, die sich lang nicht gesehen und nun unsicher sind, wie sie sich wiederfinden, und ob sie dieselben geblieben. Doch als ganz die gleiche, die sie vor Jahren gekannt, erschien der Tempelbewohnerin die Vielgereiste mit den düster umschatteten Augen, den starren tragischen Zügen, aus denen ihr Alter schwer zu bestimmen gewesen wäre. Verändert dagegen war die Tempelbewohnerin selbst: Witwenschleier umhüllte sie, wehe Trauer sprach aus ihrem sanften, stillen Antlitz.
Die hohe Treppe zu den oberen Tempelbauten schritten die beiden Frauen nun hinan. Auf der obersten Stufe blieb die Weltenwanderin stehen, lehnte an der bemoosten Steinbrüstung und schaute hinein in das sie umgebende Gewirr von Zweigen. Auf tief grünem Grunde leuchteten die ersten herbstlich gefärbten Blätter gleich Bernstein und Kupfer. Am weitausgeschweiften Kacheldache
Elisabeth von Heyking: Weberin Schuld. G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1921, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Weberin_Schuld_Heyking_Elisabeth_von.djvu/112&oldid=- (Version vom 31.7.2018)