hätte, unterstützte ihn darin. Mit der halben Hofgesellschaft verbanden mich verwandtschaftliche Beziehungen; Vettern und Kusinen sechsten und achten Grades behandelten einander hier in dem festgeschlossenen Kreise wie nahe Blutsverwandte. Wir waren in großer Gesellschaft, wenn kaum einer unter uns nicht „Du“ zu dem anderen sagte.
Wie ein süßer Duft verlöschter Wachskerzen schwebte die Erinnerung an das achtzehnte Jahrhundert über all diesen Menschen und ihrer Umgebung. Alles war verblaßt, was damals in Farben und Gefühlen gejauchzt und geschwelgt hatte: die Rosenteppiche, – die gemalten Wangen, – die Liebe. Und die raschelnden bauschenden Gewänder, die Schönpflästerchen, die bunten Westen, die weißen Perücken und Galanteriedegen hatten die Damen und Herren abgelegt. Sie sahen darum oft recht dürftig und ungeschickt aus. Nur wenn im Schloß die Lüster brannten und das blanke Parkett und die hohen Spiegel ihr Licht tausendfältig wiedergaben, schienen sie sich des alten Lebens bewußt zu werden. Sie tanzten und lachten und neigten sich und nippten vom süßen Weine, und ich selbst mitten darin kam mir vor wie ihresgleichen: ein Schatten der Vergangenheit.
Auch in die Bürgerhäuser kam ich, wo Erinnerungen alter Zeiten in vergilbten Briefen, zärtlich-himmelblauen Stammbüchern, Ringen aus den Haaren der Liebsten, Prunktassen mit den Bildern der Unsterblichen verwahrt wurden. Der freundliche, ein wenig sentimentale, ein wenig enge Geist der dreißiger Jahre herrschte hier. Keine moderne Renaissance hatte die gradlinigen Biedermeiermöbel und die hellen Mullgardinen verdrängt, und
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/486&oldid=- (Version vom 31.7.2018)