elastischen Schritten eines jungen Mannes; ich hatte kaum Zeit, ihm bis zum Treppenaufgang entgegenzugehen. Und dann saß er mir im Rokokosalon gegenüber, und je länger er sprach – mit heller Stimme und in dem eleganten Französisch des ancien régime –, desto tiefer versank die Gegenwart, und in mystischem Halbdunkel stieg die Vergangenheit empor. Von der Großmutter erzählte er mir zuerst, wie schön und wie gut und wie klug sie gewesen wäre, wie sie Weimars Geist in sich verkörpert habe, wie er nie habe verstehen können, daß sie anderswo als in ihrer Seelenheimat zu leben imstande gewesen war. Zuweilen legte er die Hand über die Augen, eine gelbliche, blutleere muskellose Hand, die gewiß niemals fest zuzupacken vermocht hatte, und lehnte sich, als käme plötzlich die Erinnerung an das eigene Alter über ihn, tief in den Stuhl zurück. Aber gleich darauf reckte sich„ sein schmaler Oberkörper krampfhaft auf, die Hände umschlossen die Seitenlehnen, die Augen weiteten sich, und mit dem stereotypen angelernten Fürstenlächeln, das über jede Empfindung hinweg täuschen soll, begann er wieder zu reden. Nun war ich nicht mehr das Enkelkind der Freundin seiner Jugend, sondern die Schriftstellerin, von der er die Erfüllung eines langgehegten Wunsches erwartete. Die Geschichte der Gesellschaft Weimars sollte ich schreiben, jener Gesellschaft, die seit Goethes Ankunft in der Residenz Karl Augusts „getreu ihrer Tradition, Künstler und Dichter als gleichberechtigte aufgenommen und ihnen den Weg zum Ruhm gebahnt hat.“ Und von den Vielen erzählte er, denen Weimar ein Sprungbrett ins Leben gewesen war, die hier zuerst die Anerkennung fanden, die die Welt draußen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/484&oldid=- (Version vom 31.7.2018)