aufzutreten; von den sitzengebliebenen Kusinen, die Krankenpflegerinnen wurden, weil andere Berufe sich doch nicht schickten, war die Rede. „Besser sich die Finger mit Blut als mit Tinte beschmutzen,“ krähte die hohe Greisenstimme Tante Jettchens. Und dann wurde das unerhörte Ereignis kräftig glossiert, daß ein Golzow die Tochter eines Großindustriellen geheiratet hatte. Die erste Unadelige in der Familie, und noch dazu der Sprößling eines „Kohlenfritzen!“
„Und der Kerl, der Ernst, hat noch die Frechheit gehabt, mir seine Verlobungsanzeige zu schicken.“ Auf Tante Jettchens runzligen Wangen brannten rote Flecke. „Aber freilich, wenn von oben das Beispiel gegeben wird! – Wenn Se. Majestät selbst mit dem Kanonen-Krupp und den Hamburger Kaffeesäcken fraternisiert! – Und amerikanische Milliardärstöchter, deren Väter noch mit dem Bündel auf dem Rücken durchs Land zogen, hoffähig werden!“ – Ihre Stimme überschlug sich, der stockende Atem zwang sie zum Schweigen. Und nun erst griff die rechte Stimmung Platz, ohne die eine Gesellschaft unserer Kreise kaum noch möglich schien: Jeder wußte einen neuen Hofklatsch, eine neue Variation einer der vielen Kaiserreden oder flüsterte dem Zunächstsitzenden – aus Rücksicht auf die anwesenden jungen Mädchen – einen neuen derben Spaß zu, durch den irgendein Eulenburg oder Kessel die Lachlust Sr. Majestät gereizt und sich eine neue Gunstbezeugung errungen hatte.
„Für das Modell des Doms, mit seiner überladenen Pracht, hat er selbst die Zeichnungen entworfen,“ sagte der eine, „dem Darsteller des großen Kurfürsten in
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/478&oldid=- (Version vom 31.7.2018)