empfindlich – aus den Himmeln meiner Begeisterung, als Stöcker von den elenden Löhnen Berliner Mäntelnäherinnen sprach, und Singer, der Parteigänger Bebels, der sich mir eben als Vertreter aller Unterdrückten offenbart hatte, dem persönlichen Vorwurf, daß er selbst durch solche Löhne reich geworden sei, nur mit lahmen Ausreden begegnete.
„Es ist wie bei den Predigern des Christentums,“ sagte ich, wie immer rasch verbittert durch eine Enttäuschung, zu Großmama, „richtet euch nach meinen Worten, aber nicht nach meinen Taten.“ Und erheblich ernüchtert las ich weiter. Aber schon wenige Seiten später schlug meine Empfindung abermals um, – es war eben nur Empfindung, die sich wie Sommerfäden vom Winde hin und her treiben ließ, weil sie nicht zwischen die festen Pfeiler der Erkenntnis gesponnen war. Ein konservativer Redner verlas ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest, wonach die Weibergemeinschaft eines der Postulate der Sozialdemokratie wäre. Aus Liebknechts Erwiderung ergab sich, daß es sich auch diesmal um eine gegnerische Fälschung handelte. Seinem ganzen Inhalt nach gab er das Manifest wieder. Ich faßte nur auf, was mich am tiefsten traf: die Forderung einer von ökonomischen Rücksichten vollkommen losgelösten Ehe. Wurde nicht hier die Standarte eines Ideals aufgerichtet, das die ganze christliche Zivilisation nicht nur nicht verwirklicht, sondern mehr und mehr in den Staub getreten hatte?!
Ich sprach mit Großmama darüber.
„Das ist das Verdienst der Sozialdemokratie,“ sagte sie, „über das man manche ihrer Sünden vergessen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/317&oldid=- (Version vom 31.7.2018)