die letzte Entwicklungsphase der Vereisung. Es gab daher Augenblicke, wo ich meinem Vater und meinem Onkel mehr beipflichtete als meiner Großmutter und deren Wunsch, „die infamen Kerls an den Laternenpfählen aufzuknüpfen“, mich nicht empörte.
Mit steigendem Staunen las ich jetzt die Debatten. Als der Minister von Puttkamer, – der mir als kirchlicher Reaktionär schon unangenehm genug war, – die gegen die Übermacht reicher Fabrikanten um ihr Brot kämpfenden belgischen Kohlenarbeiter, von denen damals die Presse voll war, als Beispiel jener „sozialrevolutionären Bewegung“ hinstellte, der die deutsche Regierung „mit niederschmetterndem Widerstand begegnen“ würde, frappierte mich diese Identifizierung armer darbender Arbeiter mit den deutschen Sozialdemokraten außerordentlich, und als Bebel antwortete, vergaß ich über alledem, was er sagte, die Person des Redners. Daß der Übermut der durch die Arbeit der Armen reich gewordenen belgischen Fabrikanten und die Unterstützung, die die Regierung ihnen angedeihen ließ, indem sie mit militärischer Gewalt wie gegen Vaterlandsfeinde gegen die Bergarbeiter vorging, die revolutionäre Bewegung hervorgerufen hatte, – hervorrufen mußte, weil Menschen auf die Dauer keine stumpfsinnigen Sklaven sind, ebenso wie die Herrschaft der Knute in Rußland notwendig den Meuchelmord zeugte, – das alles wirkte auf mich mit der Selbstverständlichkeit eigenster Gedankengänge, und mich empörte die versteckte Absichtlichkeit, mit der dem Redner die Worte im Munde verdreht wurden und seine politischen Gegner ihm immer wieder unterstellten, er habe den Mord verherrlicht. Ich fiel erst wieder – und recht
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/316&oldid=- (Version vom 31.7.2018)