die Kleine neben mir, noch röter und verlegener als ich, half mir rasch beim Anziehen und lief dann auch davon. Langsam erhob ich mich, – die Glieder waren mir schwer, – da stand Hellmut vor mir – ein paar Schweißtropfen auf der Stirn und doch ganz blaß.
„Nun baue ich Tag um Tag eine Mauer um dich, damit nichts und niemand dir zu nahe treten kann, und du – du gibst dich diesen – diesen Schurken preis,“ kam es stockend über seine Lippen. Mir stürzten die Tränen aus den Augen, – doch schon hatten seine Arme mich umschlungen, und sein Mund preßte sich auf den meinen, und die heißen, lang zurückgedämmten Wogen der Leidenschaft schlugen über uns zusammen.
Wie wir uns trennten, wie ich nach Hause kam, – ich weiß nichts mehr davon. Ich weiß nur, daß ich am weit geöffneten Fenster saß und die linde Nachtluft tief und langsam einsog, als hätte ich nie vorher die Wonne des Atmens gekannt. Dann stockte mein Herzschlag, – ein fester Tritt, ein schleppender Säbel unterbrachen die Stille, ein lichtes Blau schimmerte durch die Büsche des Gartens. „Alix –“ klang es sehnsüchtig. – Und ich nahm die Rose, die mir noch zerdrückt im Gürtel hing und warf sie in zwei geöffnete Hände.
Alles Denken war ausgelöscht in meinem Hirn, ich fühlte nur mit gesteigerter Intensität. Morgens am Kaffeetisch umarmte ich zärtlich den Vater, – es fiel mir plötzlich schwer aufs Herz, daß ich seiner rührenden Liebe stets so kühl begegnet war –. „Du hast ja schon in aller Frühe illuminiert,“ sagte er und streichelte mir halb erstaunt, halb beglückt die Wangen. Schüchtern und schuldbewußt küßte ich der Mutter die Hände, –
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/284&oldid=- (Version vom 31.7.2018)