„Beruhige dich, lieber Onkel, ich kriege noch zehn für einen. Ich werde dir den Kummer nicht antun, eine alte Jungfer zur Nichte zu haben.“
Und nun nahm ich wieder an der Geselligkeit teil, – nicht allein, weil ich ihm beweisen wollte, daß ich recht hatte, sondern auch, weil die Tante mich ärgerte, die – wie ich herausfühlte – aus reinem Egoismus das Einsamkeitsbedürfnis ihrer Rivalin zu fördern suchte. „Laß sie doch, wenn es ihr kein Vergnügen macht, – wir werden auch ohne sie fertig!“ hatte sie erst kürzlich ihrem Mann zugerufen, als er noch vom Wagen aus mich zur Teilnahme an einem Ausflug nötigen wollte. Außerdem – wer weiß?! – konnte der Gralsritter, von dem ich doch immer wieder heimlich träumte, nicht auch hier, am grauen Gestade der Ostsee landen?!
Picknicks und ländliche Feste, wo schrecklich viel gegessen, noch mehr getrunken und wenig geredet wurde, Jagd- und Manöverdiners und häuslicher Trubel fingen an, mir sogar wieder Spaß zu machen. Wenn ein paar lustige Leutnants, um vom Manöver aus Pirgallen zu erreichen, meinetwegen ein paar Nächte um die Ohren schlugen; wenn abends am Strande von Kranz, dem nahen Seebad, wohin wir häufig fuhren, prasselndes Feuerwerk mir zu Ehren in die Luft stieg; wenn Blicke mir folgten, die mehr sagten als schmeichelnde Worte, – dann schlürfte ich mit wonnigem Wohlgefühl den berauschenden Trank der Bewunderung, und die kleinen Teufel der Eitelkeit triumphierten über die guten Geister im Bücherschrank von Pirgallen. Aber „er“ blieb unsichtbar, und so war meine Gesellschaftspassion immer nur ein Wechselfieber. „Die Gesellschaft ists gar nicht,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/249&oldid=- (Version vom 31.7.2018)