arbeiten Sie am Tage?“ – „I steh halt um fünfe auf und leg mich um zwölfen nieder!“ – Und das alles nur um das elende Leben am nächsten Tag weiter zu fristen!
„Was verdienen Sie in der Woche?“ – „Sechs Mark, und wanns arg gut geht, achte. In der stillen Zeit gibts oft keine drei und vier. Und fünf – sechs Wochen im Jahr is die Arbeit rar.“ – Also hatte sie für sich und die ihren weniger, als mein Taschengeld betrug, – und ich gebrauchte für bloßen Toilettentand mehr als sie mit den Kindern zum Leben hatte!
Ich ertrug es nicht länger. Das Weltbild verschob sich mir, und seine Farben flossen zusammen, so daß nichts als ein schmutziges Grau übrig blieb. Ich griff in die Tasche, und in der Empfindung etwas zu tun, was für mich weit beschämender war, als für die arme Frau, schüttete ich ihr den Inhalt meiner Börse in den Schoß und lief, so rasch ich konnte, davon. Als ich, trotz aller Mühe, mich zu beherrschen, atemlos und erregt von dem Erlebten berichtete, erklärte die Tante mich für „überspannt“. „Wie kannst du die Dinge nur von unsern Empfindungen aus bewerten. Die Leute sind das nicht anders gewöhnt, und wenn für das Notwendigste gesorgt wird, sind sie zufrieden. Sie übermäßig zu bedauern heißt, sie zu Sozialdemokraten machen.“
Ein andermal kam ich zu einem alten Manne, dessen Tochter Fabrikarbeiterin war. Die Armenunterstützung, die er erhielt, reichte zu seiner Erhaltung nicht aus, und sie hatte erklärt, von ihrem Lohn nur wenig erübrigen zu können. Der Alte saß am Fenster eines reinlichen Zimmerchens, als ich eintrat; er hustete beinahe ununterbrochen,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/188&oldid=- (Version vom 31.7.2018)