unsere Sache, für die Bedürftigen aber muß die ganze Bevölkerung herangezogen werden.“
Auch zu Recherchen wurde ich mitgenommen oder durfte sie hie und da selbst machen. So kam ich einmal zu einer armen Witwe in die Wertach-Vorstadt, die sich und ihre vier Kinder mit Wäschenähen zu ernähren bemühte und um Unterstützung nachgesucht hatte. Durch einen engen, dunkeln Hof mußte ich gehen, in dessen dumpfer Kellerluft eine Schar blasser, kleiner Buben und Mädeln sich herumtrieb. Sie scharten sich alle mit offnen Mäulchen um mich, als ich nach Frau Hard frug. „Über drei Stiegen links wohnt Mutta,“ sagte ein blasser Junge mit einem ernsthaften Altmännergesicht, und die Schwester, deren Züge auch vom Lachen so wenig zu wissen schienen wie dieser Hof vom Sonnenschein, führte mich hinauf.
Mit jenem angstvoll nervösen Ausdruck gehetzter Tiere, der sich den Gesichtern all der Menschen einprägt, die den Kampf ums tägliche Brot jeden Morgen in gleicher Schärfe aufs neue beginnen müssen, sah die arme Frau mir entgegen. Während sie Heftfäden aus all den vielen weißen Wäschestücken zog, die fast das ganze winzige Zimmer füllten, und dazwischen hie und da aufsprang, um nach dem brodelnden Topf in der dunkeln Küche nebenan zu sehen, von dem ein widerlicher Geruch nach schlechtem Fett sich allmählich überallhin ausbreitete, erzählte sie mir ihre Leidensgeschichte. Der Mann, ein Maler, war vor drei Jahren an der Schwindsucht gestorben, – „ka Wunder nöt bei dera Fabrik am Stadtbach draußen“ –, die Direktion hatte ihr eine einmalige Unterstützung von hundert Mark zugewiesen. „Gott vergelts ihna viel
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/185&oldid=- (Version vom 31.7.2018)