nicht mehr anziehst!“ sagte die Tante stirnrunzelnd, während sie sich setzte und die Spitzenflut ihres Kleides sich um ihren Stuhl ausbreitete.
„Hast du deine Zimmer gemacht?“ mit dieser verblüffenden Frage begann sie aufs neue ein Gespräch, in das ich noch mit keinem Wort eingegriffen hatte. „Meine Zimmer?!“ Ich glaubte mich verhört zu haben. In diesem eleganten Haushalt, angesichts einer zahlreichen Dienerschaft männlichen und weiblichen Geschlechts sollte ich die Zimmer machen?! „Es ist doch selbstverständlich, daß ich für dich keine Kammerjungfer halten werde. Außer der groben Arbeit hast du selbst Ordnung zu halten. Und zwar muß vor dem Frühstück alles fix und fertig sein.“ Die Bissen blieben mir im Halse stecken, – so etwas hätte ich mir niemals träumen lassen! Aber es kam noch besser: aus Schränken und Schubladen wurden meine Sachen herausgezogen; kaum ein Hut oder ein Kleid fand Gnade vor den Augen der Tante; und meine Art, die Dinge einzuräumen, erklärte sie für skandalös. Dann forderte sie den Schlüssel zum Schreibtisch – „ein Kind hat nichts zu verschließen“ – und geriet in helle Empörung über meine poetischen Manuskripte, die sie durchstöberte, und meine Lieblingsbücher, von denen ich mich nicht hatte trennen wollen.
„Eine nette Erziehung!“ rief sie, „und ich kann meine Zeit und meine Kräfte opfern, um so ein von Grund aus verdorbenes Geschöpf wie dich zu einem anständigen Menschen zu machen!“ Ich zitterte vor Aufregung, aber kein Wort kam über meine Lippen, – das einzige, was ich durch die Erziehung meiner
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/165&oldid=- (Version vom 31.7.2018)