ich wollte ihn um Verzeihung bitten, mich ihm heimlich verloben, ihm ewige Treue schwören.
In aller Herrgottsfrühe ließ ich mir die „weiße Dame“ satteln und ritt durch einen feuchtkalten Septembermorgen zu ihm hinüber. Vor der Stalltür sprang ich vom Pferde und warf dem ersten erstaunt herbeieilenden Knecht die Zügel zu. Mit wild klopfendem Herzen zog ich die Glocke an dem einstöckigen, einfachen Herrenhaus. Wie heldenhaft kam ich mir vor, wie ungeheuer das Opfer, das ich brachte! Eine dicke Wirtschafterin trat mir entgegen. Stotternd frug ich nach dem Herrn. Mit offnem Munde starrte sie mich an, um dann spornstreichs im Hintergrunde zu verschwinden. Gleich darauf stand Rapp vor mir. In äußerster Verlegenheit vermochte ich nur das eine Wort „Verzeihung“ zu murmeln. „O gnädiges Fräulein hatten einen Ohnmachtsanfall!“ rief er so laut, daß die Mamsell, die den Kopf neugierig durch die nächste Türe steckte, es hören konnte, „ich werde sofort für eine Erfrischung sorgen.“ Er holte ein Glas Wein und flüsterte mir, während ich trank, mit scharfer Stimme zu: „Ich kann Ihnen nur raten, schleunigst in die Kinderstube zurückzukehren. Spielen Sie vorläufig mit Puppen, statt mit Menschen!“ Langsam und müde ritt ich nach Pirgallen zurück.
Mein heimlicher Spazierritt und sein Ziel blieben nicht unbekannt, sogar Papa erfuhr davon, als er auf Urlaub nach Pirgallen kam. „Hast du denn gar keine Scham im Leibe?“ schrie er mich wütend an. Großmama suchte mich zu schützen, aber ihre dauernde stille Sorge um mich empfand ich so sehr als einen Vorwurf, fürchtete so sehr, daß sie, die fromme Christin,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/161&oldid=- (Version vom 31.7.2018)