materiellen Lebensgenusses; nur daß die einen ihn besaßen, ihn bis zum letzten Tropfen auskosten wollten, die andern mit allen Mitteln um seinen Besitz kämpften. Inhalt und Ziel des Lebens war für beide gleich; – so schien es auch mir nach allem, was ich hörte und las, darum habe ich bei all meiner Begeisterung für die Freiheitshelden der Geschichte, die Sozialdemokraten nicht mit ihnen zu identifizieren vermocht, und meine Abneigung stieg zu fanatischem Abscheu, als Kaiser Wilhelm, der für uns alle das geweihte Symbol der Einheit und Größe Deutschlands war, von Hödel bedroht und von Nobiling verwundet wurde.
Oben auf dem Fort Winiary, wo ein großer schattiger Kasinogarten die Posener Offizierskreise im Sommer zu vereinigen pflegte und ich, die verwöhnte Tochter des allmächtigen Korpschefs, mit den Erwachsenen Krocket und Boccia spielt, saßen wir gerade fröhlich um den Kaffeetisch, als ein blutjunger Leutnant atemlos auf uns zugestürzt kam. „Herr Oberst, Herr Oberst –“ mehr brachte er nicht heraus, die dicken Tränen liefen ihm über die Wangen. „Zum Donnerwetter, was gibts denn?“ herrschte mein Vater ihn an. „Seine Majestät unser allergnädigster Kaiser –“ er versuchte stramm zu stehen wie zur Meldung, aber die Knien zitterten ihm – „ist – ist erschossen.“ Mit einem wilden Aufschluchzen brach er ab. Mein Vater wurde aschfahl. „Das ist nicht wahr,“ schrie er. Stumm reichte ihm der Unglücksbote ein halb zerknülltes Papier, – das Extrablatt. Aus dem ganzen Garten waren inzwischen die Menschen zusammengelaufen, Soldaten und Offiziere, Männer und Frauen, jung und alt. Alle weinten. Mein
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/114&oldid=- (Version vom 31.7.2018)