als größtes Gut. Das persönliche Verhältnis, in dem der unbemittelte Linienoffizier noch oft zum Soldaten stand, war die Brücke des Verständnisses für viele Wünsche und Bedürfnisse des Volks. Mit wieviel Heftigkeit hörte ich oft darüber reden, daß es „oben“ an der nötigen Sorge für vorhandene Not fehle, daß das „Hofgeschmeiß“ vor lauter Lustbarkeit die preußische Tradition der Pflichterfüllung immer mehr vergesse. Als mein Vater einmal von irgendeiner Meldung aus Berlin zurückkam, vermochte kein warnendes „Aber Hans!“ meiner Mutter, keiner ihrer bedeutungsvollen Seitenblicke auf mich seine Empörung zu besänftigen, die sich in drastischen Erzählungen über das, was er gehört und gesehen hatte, Luft machte. Der zunehmende Einfluß der Finanzkreise, die Demoralisierung der Garde durch ihre Intimität mit „Theaterprinzessinnen“ und ihre Verschwägerung mit „Börsenjobbern“, der unpreußische Prunk der Hoffeste, die Vetternwirtschaft, wo es sich um Avancements handelte, – das alles wurde immer wieder besprochen, und ein „Da wird noch was Gutes dabei herauskommen“ blieb der Refrain. Aber Hand in Hand mit dieser abfälligen Kritik derer „oben“, ging eine schroffe Verurteilung jeder Auflehnungsversuche derer, die „unten“ sind. Das patriarchalische Verhältnis war das Ideal, was dagegen verstieß, ein Verbrechen. So war mein Vater ein grimmiger Feind des großindustriellen Unternehmertums, – Worte wie „Ausbeuter“ und „Blutsauger“ hörte ich oft von ihm –, mit derselben Heftigkeit aber verurteilte er die Ausgebeuteten und Ausgesogenen, die sich selbst Recht verschaffen wollten. Beide standen nach seiner Auffassung auf demselben Standpunkt
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/113&oldid=- (Version vom 31.7.2018)