Eines Winterabends war mir der Lesestoff ausgegangen. Meine Eltern waren nicht zu Haus; ich konnte unbemerkt zum nächsten Buchhändler laufen, um zu holen, wonach ich Verlangen trug. Von E.T.A. Hoffmann hatte ich in der Literaturgeschichte gelesen – „das ist noch nichts für dich“ war mir geantwortet worden, als ich, in der Meinung, es handle sich um Kindermärchen, den Lehrer darum gebeten hatte. Und dies „das ist nichts für dich“ war mir längst zum Empfehlungsbrief der Bücher geworden. Mit „Klein-Zaches“ und dem „Goldnen Topf“ in der Tasche kam ich zurück. Dann fing ich an zu lesen. Mein Abendbrot, das man mir brachte, blieb unberührt, die Mahnung der Jungfer, schlafen zu gehen, unbeachtet. – Saß ich nicht selbst unter dem Holunderbusch und sah die grüne Schlange, und hörte die klingenden Glöcklein? Grinste mir nicht von der Tür her das Bronzegesicht der zauberhaften Apfelfrau entgegen? – Da öffnete sich die Tür. „Wie, du bist noch nicht im Bett?!“ tönte mir die Stimme meines Vaters entgegen. „Ich muß wohl eingeschlafen sein,“ stotterte ich und versteckte hastig mein Buch. „So zieh dich rasch aus – ich werde Mama nichts sagen – gute Nacht.“ Damit schloß er die Türe wieder. Ich löschte die Lampe und kroch mit den Kleidern ins Bett; als Mama leise eintrat, glaubte sie mich schlafend. Und dann las ich weiter: von Klein-Zaches mit den drei goldnen Haaren, von der Nachtigall und der Purpurrose, von der Lotosblume und dem Goldkäfer. Es ließ mich nicht los, bis ich zu Ende war, und ich lebte von da an in der Welt Hoffmanns, so daß mir jede Berührung der Wirklichkeit
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/101&oldid=- (Version vom 31.7.2018)