entrissen, wenn ich Besuch hatte, was ich darum zumeist nur als unangenehme Störung empfand. Was hatte ich gemeinsames mit den „dummen Schulgöhren“? Ihren Schulklatsch verstand ich nicht, und ließ ich mich hinreißen, ihnen meine Interessen zu verraten, so lachten sie mich aus. Mama hielt es für ihre Pflicht, mir Verkehr mit Altersgenossen zu verschaffen, auch ich empfand ihn nur als eine Pflicht, die nach meiner Erfahrung stets das Gegenteil des Vergnügens war. Mit in die Höhe gezogenen Beinen in der Sofaecke kauern, vertieft in ein Buch, vor dessen Zauber die ganze Welt um mich versank, – diesem Genuß glich kein andrer! Nur die ständige Angst, entdeckt zu werden, beeinträchtigte ihn. Denn, was ich las, – dessen war ich sicher –, gehörte nicht zu der erlaubten „Mädchenlektüre“, und doch fühlte ich instinktiv, daß es tausendmal wertvoller war als die zuckersüßen Backfischgeschichten von Clementine Helm, für die sich meine Freundinnen damals begeisterten.
In dem neuen Bezug meines alten Sofas hatte ich eine Naht aufgetrennt; hörte ich Schritte draußen, so verschwand mein gelbes Heft in dies sichere Versteck, und ich beugte mich rasch andachtsvoll über Webers Weltgeschichte, die auf dem Tische bereit lag. Nach und nach wurde das gute verschwiegene Möbel meine Schatzkammer. Da lagen sie alle friedlich beisammen, deren Gestalten in meinem Hirn und Herzen in tollen Tänzen durcheinanderwirbelten: Die Arnim und Brentano, die Hauff und Zschokke, die Scott und Bulwer, die Gogol und Turgenjeff. Sie ließen mich nachts oft nicht zur Ruhe kommen, und wenn ich schlief, verfolgten sie mich bis in meine Träume.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/100&oldid=- (Version vom 31.7.2018)