„Jedenfalls muß ich immer dabei sein,“ seufzte darauf Mama.
Ich erschrak. Vor niemandem vermochte ich so wenig aus mir herauszugehen wie vor ihr. Lähmend wirkte ihre Kühle auf mich. Wie eine stumme Geige war ich in ihrer Nähe: gehorsam geben die Saiten dem Spiel der Finger nach, aber mit keinem Ton antworten sie ihnen.
„Warum denn, Mama?“ frug ich mit zuckenden Lippen, die Augen bittend auf sie gerichtet, „ich werde sicher gut aufpassen und immer fleißig sein.“
„Glaubst du vielleicht, ich tus aus Vergnügen?!“ Ihre Stimme wurde schärfer: „Es schickt sich einfach nicht, euch allein zu lassen!“
Eine unklare Empfindung, als habe mich etwas Unreinliches berührt, trieb mir die Schamröte in die Wangen.
Wir verstummten alle. Tiefer senkte ich den Kopf auf mein Buch, aber ich sah die Worte nicht; ich hörte auf den Regen, der eintönig gegen die Fensterscheiben schlug. Das Kaminfeuer nebenan war erloschen.
Am nächsten Nachmittag begann der Unterricht. Mama saß richtig mit einer Handarbeit dabei. Ihre Gegenwart schien auch der Lehrer peinlich zu empfinden, er kam nicht in die Stimmung, die mich an ihm mit so viel Hoffnung erfüllt hatte, und wir waren schließlich sichtlich enttäuscht voneinander. Wochenlang blieb alles beim alten, und ich sagte mir mit altkluger Bitterkeit, daß ich mich eben wieder einmal umsonst gefreut hätte. Aber mit dem nahenden Winter nahm die Geselligkeit zu, und schließlich war sie dermaßen ausgedehnt, daß ich meine
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/089&oldid=- (Version vom 31.7.2018)