tüchtig anstrengen müssen, damit der Geist sich streckt, wie der Körper.“ Ich reichte ihm die Hand; sein warmer, kräftiger Händedruck ließ mich erstaunt zu ihm aufsehen, – meine früheren Lehrer hatten mir immer nur die Fingerspitzen berührt, was mich von vornherein hatte frösteln lassen.
Ein großer, breitschultriger Mann stand vor mir; ein paar gute Augen von einem so reinen Blau, wie es mir noch bei keinem Menschen begegnet war, sahen mich forschend an. Und doch konnte ich nur schwer ein Lächeln verbergen: wie schlecht paßte der Mann, dachte ich, in den langen korrekten schwarzen Rock. Eines Arminius Lederwams und Panzer hätte ihm besser gestanden, und unter einem Büffelhelm würde der breite Germanenkopf mit dem gelockten rötlichen Haar und dem dichten Bart nie den Gedanken an einen preußischen Gymnasiallehrer haben aufkommen lassen. Er errötete unter meinem Blick und setzte sich mit einer ungeschickt verlegenen Bewegung, den Zylinder immer noch in der Hand, auf den Rand des ihm angebotenen Stuhles. Es bedurfte der ganzen gesellschaftlichen Geschicklichkeit meiner Mutter und der jovialen Liebenswürdigkeit meines Vaters, um eine Unterhaltung in Fluß zu bringen. Erst als das Gespräch sich ausschließlich auf des Besuchers eigentlichstes Gebiet konzentrierte, wurde er lebendig, und je mehr er den schwarzen Rock und das Zeremoniell der Salonkonversation vergaß, desto stärker trat seine Natur hervor: die eines Menschen voll Jugendkraft und Enthusiasmus. Ich empfand sie, wie ich den schäumenden Gießbach und die dunkeln, schattenden Bäume in dem kühlen, grünen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/087&oldid=- (Version vom 31.7.2018)