„Ihr habt ja das Mädel gut klein gekriegt,“ höhnte Papa, „aber ich geb das nie und nimmer zu! So stehts noch nicht mit mir, daß ich meine Tochter das Gnadenbrot essen ließe! – Sie bleibt zu Hause, wo sie hingehört, sie wird nicht zum Hofschranzen erzogen – und damit basta!“
Mama blieb still. Ich wurde ins Bett geschickt, hörte aber noch lange des Vaters heftige Stimme: mein Schicksal, das fühlte ich, wurde dort drüben entschieden.
Am Tage darauf mußte ich mich auf des Vaters Kniee setzen, und mit einer weichen Zärtlichkeit, die er selten zu zeigen pflegte, sprach er auf mich ein:
„Du bist mein einziges Kind, Alixchen, und meine ganze Lebensfreude. Wenn ich dich von mir gebe, so heißt das, dich verlieren, denn fremde Einflüsse werden auf dich wirken, die meinem Denken und Fühlen entgegengesetzt sind. Glaube mir: niemand meint es so gut mit dir wie ich, wenn ich auch oft grob und heftig bin, – und niemand kann dich lieber haben.“ Mit feuchten Augen sah er mich an: „Willst du deinen armen alten Vater wirklich verlassen, mein Kind?“
Schluchzend schlang ich die Arme um seinen Hals: „Ich bleibe bei dir, Papa.“
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/085&oldid=- (Version vom 31.7.2018)