vom Stuhl auf. Ich erhob mich gleichfalls, um möglichst rasch zu verschwinden. „Du bleibst!“ schrie Papa wütend, mein Handgelenk umklammernd. „Alix ist schließlich die Hauptperson, – mag sie entscheiden,“ fügte er hinzu und reichte mir trotz Mamas entrüstetem „Aber Hans, wie unpädagogisch!“ den gewichtigen, großen Bogen. Er enthielt die kurze Mitteilung, daß „Ihre Majestät gnädigst geruht habe, Fräulein Alix von Kleve eine Freistelle im Augustastift zu bewilligen,“ und die Bemerkung von der Kaiserin eigener Hand „sie freue sich, die Enkelin ihrer lieben Jugendfreundin Jenny in die ihrem Herzen so nahe stehende Anstalt aufnehmen zu können.“ Im Fluge erschienen all die Bilder des Stifts vor mir, die ich bei meinen Besuchen mit Großmama oft genug gesehen und meinem Vater oft genug geschildert hatte: Alles war Uniform dort, von der Kleidung bis zur Gesinnung, und von den weiten Schlafsälen bis zum Garten atmete alles denselben Geist: den der Hygiene, der Pünktlichkeit, der Ordnung. Da gab es kein stilles Plätzchen und keine Zeit zum Träumen. Das, was mir von klein auf das tiefste Bedürfnis gewesen war: allein sein zu können mit meinen Gedanken, wäre hier Tag und Nacht unbefriedigt geblieben. Aber war es nicht vielleicht die Hand Gottes, die mir grade diesen Weg der Buße wies? Würde ich nicht mit einem Schlage meine Eltern von drückenden Sorgen befreien, wenn ich ihn, ohne Rücksicht auf meine Wünsche, tapfer betrat? Erwartungsvoll fragend sah Papa mich an. Und leise, mit gesenkten Augen sagte ich: „Es wird wohl das beste für mich sein!“
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/084&oldid=- (Version vom 31.7.2018)