mit dem „Herrschaftskind“ diesem unter und sehen es fast als Auszeichnung an, die Rolle der Untergebenen zu übernehmen. Wo die frische Luft der Berge weht, hat selbst die Sklavenmoral der katholischen Kirche Freiheitsgefühl und Selbstbewußtsein nicht zu unterdrücken vermocht. Der Sepp vom Bärenbauern, der am verwegensten kletterte und am schönsten jodeln konnte, —– mein Hauptspielgefährte, —– behandelte mich ganz auf gleich und gleich, ja er sah zuweilen mit unverhohlenem Stolz auf mich herab, und seiner urwüchsigen Kraft gegenüber kam selbst meine sonst so ausgeprägte Empfindlichkeit nicht auf: ich biß nur in stillem Ingrimm die Zähne zusammen, wenn er mich verspottete, weil ich ohne seine Hilfe den Fels nicht hinaufkam. Es gab viel zerrissene Kleider dabei; und wäre die alte Kathrin nicht gewesen, die sie heimlich flickte und immer dafür sorgte, daß ich in möglichst tadelloser Toilette bei den Mahlzeiten erschien, —– ich hätte mich nicht lange meiner Freiheit erfreuen dürfen.
An einem heißen Julinachmittag kam ich einmal, einen großen Buschen Alpenrosen im Arm, eilig vom Ochsenhügel heruntergelaufen, in heller Angst, zur Teestunde zu spät zu kommen. Ich suchte darum möglichst schnell an dem Wagen vorbeizuschlüpfen, der vor unserem Gartentor hielt, als eine Hand mir in die wehenden Locken griff und eine lachende Stimme rief: „Das ist doch die Alix, das Nichtchen!“ Eine große blonde Frau, von einem kleinen Mädchen und einem halberwachsenen Knaben begleitet, stand vor mir, und nun mußte ich Rede und Antwort stehen, während meine Augen ängstlich an meinem fleckigen Lodenrock und den schmutzigen Stiefeln
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/054&oldid=- (Version vom 31.7.2018)