blühten und ihr Duft süß und schwer über Wasser und Wald sich legte, zog seine Witwe auch nach seinem Tode hierher und blieb, bis der Schnee über die Bergspitzen hinunter ins Tal sich streckte.
Seitdem wir in Augsburg bei ihr gewesen waren, hatte sie uns jedes Jahr zu sich eingeladen. Aber nur mein Vater hatte sie besucht; meiner Mutter war die Schwägerin nie sympathisch gewesen, und so hatte sie lange gezögert, zu ihr zu gehen. Mich freilich zog die Sehnsucht in die Berge, seitdem sie mir in der Schweiz Augen und Seele entzückt hatten; und wenn der Vater von Grainau erzählte und vom Rosensee, so wünschte ich nichts mehr, als dort zu sein. Und nun hatte sich mein Wunsch erfüllt!
Schon in Weilheim, der Endstation der Eisenbahn damals, wo das Tor des Loisachtals sich vor mir öffnete und tief im Hintergrunde die Umrisse der weißen Bergspitzen in den Wolken verschwanden, waren mir die Augen übergegangen – wie stets, wenn ein Eindruck mich überwältigte. Still und stumm ließ ich ihn auf der ganzen langen Wagenfahrt auf mich wirken, und als ich dann abends oben im Giebelstübchen des Rosenhauses stand, den Blick auf die vom dunkelblauen Nachthimmel grausilbern sich abhebenden Berge gerichtet, während die reine, kühle Luft mir um die Stirne wehte, da fiel all mein Kinderleid von mir ab, wie ein schwerer, drückender Mantel. Frei atmen konnte ich wieder.
Mit jedem Morgen, an dem ich erwachte, nach festem traumlosem Schlaf, mit jedem Abend, an dem ich mich niederlegte, müde von dem Reichtum des Tages, steigerte sich diese Empfindung. Ein Vollgefühl des Lebens
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/052&oldid=- (Version vom 31.7.2018)