Scheitel auf die Stirne fiel – meine schwarzen Locken erschienen mir plötzlich gar nicht mehr so häßlich –, als das Antlitz meiner Mutter hinter mir auftauchte. Angstvoll erstaunt wandte ich mich um; Seiden- und Samtstoffe lagen vor ihr ausgebreitet, mit zärtlichfragenden Augen sah der Vater sie an, und sie – sie freute sich nicht! Worte des Vorwurfs über die „unnützen Ausgaben“ war das erste, was ich sie sagen hörte, und mit ungewohnt heftiger Geberde nahm sie mir die Kette aus den Haaren, die nun – ich wußte das nur zu gut – in der unergründlichen Tiefe des Silberschranks verschwinden würde, wie so manche der schönsten Dinge, bis „Alix groß sein wird“. Dann dankte sie dem Vater mit einer kühlen Phrase, aus der ich das Erzwungene mit dem feinen Gefühl des Kinderherzens herausempfand. Über unsre Festtagsfreude hatte sich ein dunkler Schatten gelegt. Papa ging verstimmt hinaus, ich spielte verschüchtert in einem möglichst versteckten Winkel. Freude ist eine der sensitivsten Pflanzen, die es gibt, das hab ich damals unbewußt zum erstenmal empfunden: wenn sie in vollster Blüte steht, genügt ein kalter Lufthauch, sie zu töten. Sie will gehütet sein und gepflegt, und nur ihr natürliches Welken ist schmerzlos.
Verschleiert blieb von da an die Stimmung; um Liebe werbend, dankbar für jeden wärmeren Blick, bemühte sich mein Vater um seine schöne kühle Frau. Wie oft nahm er mich auf den Schoß, legte mein Bäckchen an seine Wange und herzte und streichelte mich, während seine Augen ihr folgten, die im Zimmer umherging, jedem Staubfäserchen nach, das etwa von einem Möbelstück nicht entfernt worden war.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/029&oldid=- (Version vom 31.7.2018)