konntest Du nur das Herz dazu haben? Du mußt doch fühlen, daß es mir ernst ist.
In dem Buch von Schopenhauer komme ich sehr langsam weiter; ich glaube, das ist eine eiskalte Gegend, wo die Philosophen hausen, mich friert ordentlich, während es mir zugleich vorkommt, als ob der Nebel um mich herum etwas durchsichtiger würde. Und dann hat es für mich so etwas Unheimliches, daß gar keine wirklichen Dinge, sondern nur unsere Vorstellungen von den Dingen da sein sollen. Wie eine grausige Schatten- und Gespensterwelt kommt mir das vor, und ich mitten drin so allein und verloren; kannst Du Dir denken, daß es mich fast freudig durchzuckte, als plötzlich in meine kalte Gedankenwüste hinein das Zwitschern der kleinen Zeisige erscholl, die sich jeden Abend auf unserer großen Linde Rendezvous geben? Es klang so vertraut und so wirklich, es schien mir ganz unmöglich, daß diese lieben Thierchen, die ich so oft beobachtet, nur in meiner Vorstellung existiren sollen. Es muß wohl sein, daß ich keine philosophische Ader in mir habe, nicht wahr? Mit Darwin geht es mir viel besser, der verlangt keine solche Sonderbarkeiten, nur daß man aufpaßt.
Lieber Axel, ich möchte gerade Dir so schrecklich gern mein Geheimniß anvertrauen, aber Dein letzter Brief hat mich so gekränkt! Und doch hilfst Du mir und kannst mir helfen wie Niemand sonst, und so hast
Ilse Frapan: Flügel auf!. Paetel, Berlin 1895, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Fl%C3%BCgel_auf_Frapan_Ilse.djvu/328&oldid=- (Version vom 31.7.2018)