kommen Sie zu dieser Frage, Frau Baronin?“ Dabei hebt sie die klaren offenen Augen und sieht fest in das gespannte Gesicht, das sich zu einem neuen malitiösen Lächeln verzieht.
„Pardon, ich fand das Blatt dicht neben Ihrem Häuschen auf dem Rasen,“ unterbricht die Titularräthin gleichfalls lächelnd, „oder vielmehr, es hing an einem Baum, ja, so war es, Baronin, auf einer Stecknadel!“
Lore schweigt, aber gemüthlich ist’s ihr nicht. Der unvernünftige Mensch hätte was Besseres thun können.
„Was steht denn darauf?“ sagt sie endlich, ein wenig rauh.
Ein Gekicher aus sechs Kehlen antwortet ihr, nur die kleine Phine steht neugierig, aber ausgeschlossen abseits. Ihre Mama hat ihr energische Zeichen gemacht, sich zurückzuziehen.
„Verse, ein verliebtes Gedicht wie es scheint – Ach geh, Phine, hol mir mal mein Strickzeug von oben, den italienischen Shawl! – Ist sie weg? Ist es unmoralisch? Bitte lesen Sie flink! Ich bin so gespannt. Fräulein Berth wird sich wohl nichts daraus machen.“ Das ist die mecklenburgische Gräfin, Phines Mutter, Lores Antipathie.
„O, Fräulein Lore kennt die Welt,“ ruft die Titularräthin, und dann liest sie mit geziertem Schmachten:
Ilse Frapan: Flügel auf!. Paetel, Berlin 1895, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Fl%C3%BCgel_auf_Frapan_Ilse.djvu/135&oldid=- (Version vom 19.8.2019)