zu sagen vermochte, meinen Charakter, meine Wünsche und Neigungen, ja die geheimsten Ereignisse aus meiner Vergangenheit so detailliert beschrieben, wie ich sie mir selbst kaum je einzugestehen gewagt hatte. Diese Beweise seiner phänomenalen Fähigkeiten hätten schon genügt, meine Zweifel zu zerstreuen; aber was ich dann noch erlebte, machte mich zu seinem Adepten. Ich traf am nächsten Tage die Gräfin Bethune bei ihm, und ich sprach mit ihr, als wäre sie niemals taub gewesen; ich sah mit meinen eigenen Augen einen armen gelähmten Bettler, den er gehen hieß wie einen leichtfüßigen Jüngling, und ein blindes kleines Mädchen, dem er mit einem Hauch seines Mundes die Augen öffnete. Als ihn am Abend die Menge der Kranken verlassen hatte, – ihr heißer Dank war der einzige Lohn, den er annahm! –, hielt er mich noch zurück.
Im Lichte einer einzigen bläulich flackernden Flamme, die ohne Lampe und Docht mitten in seinem, von Phiolen und duftenden Essenzen gefüllten Laboratorium zu schweben schien, hatten wir ein denkwürdiges Gespräch, das die Gegenwart und die Zukunft Frankreichs umfaßte. Was er sagte, muß Geheimnis bleiben zwischen uns, es hat mich tief erschüttert, und die Rolle, die er mir in der Flut kommender Ereignisse zuwies, erfüllte mich mit einem so heißen Dank gegen Gott, daß ich in Gebet versunken in die Kniee sank.
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/273&oldid=- (Version vom 31.7.2018)