philosophiere wie jetzt, bin ich darum noch kein Philosoph; nur eine Wissenschaft habe ich studiert: die Liebe. Und so gewiß, wie einst, als ich so glücklich war, Daphnis in ihre süßesten Mysterien einzuweihen, weiß ich heute, daß Delphine nach ihr verschmachtet.
Herr von Altenau erzählte neulich mit einem Stolz, als wäre es sein Werk, von den Büchern, die Sie gelesen, von den wohltätigen Anstalten, die Sie in Froberg gegründet haben. Ich sah indessen zu Ihnen hinüber, in Ihr schmales Gesicht, Ihre trauernden Augen und mich fröstelte. Wissen Sie, warum unsere Königin unersättlich von einem Fest zum andern hetzt und nicht genug kühle Edelsteine haben kann, um die heiße Haut zu bedecken? Wissen Sie, warum die Marquise de Nesle und die Gräfin de Pons sich für die chemischen Experimente des Herrn Rouelle begeistern, und warum die kleine Coigny gelernt hat, Leichen zu sezieren? Weil die Liebe an ihnen vorüberging, weil sie sie – aus Feigheit oder Sittsamkeit?! – vorübergehen ließen! Sie haben einen Gatten –, bedeutet das Liebe haben? Sie hatten wohl auch einen Geliebten –, heißt das die Liebe erschöpfen? Sie ist tief wie das Meer, reich wie das Herz der Erde, mannigfaltig wie ihr Kleid. Ihr Gegenstand mag wechseln, wie die Generationen auf Erden; sie selber bleibt. Aber brächte die Erde keine Menschen hervor, existierte sie
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/237&oldid=- (Version vom 31.7.2018)