Verbrechen und sprang der Hexe nach, die hineinlief.
Aber schon hatte sie ein Etwas vom nackten
Boden aufgerissen, ein Bündel Lumpen, wie mir
schien. Sie wiegte es in den Knochenarmen, sie
preßte es an die welke Brust, und Tränen, die
aus ihren Augen flossen, fielen darauf. Ich sah
ein greisenhaftes Gesicht, nicht größer als meine
Faust, sich aus den Lumpen heben. Sie küßte es.
Nun wußte ich, daß sie ein Weib war.
Allmählich im Weiterwandern hörte ich auf, mich zu entsetzen. Ich sah immer dasselbe: Häuser ohne Fenster und ohne Dielen, nichts darin als schmutziges Stroh. Die Möbel hatten im letzten Winter das Kaminfeuer nähren müssen, ebenso wie die letzten Obstbäume vor den Türen. Alles andere Besitztum hatten Steuererheber und Grundherren aufgefressen. Die Winzer in Laferté ließen den Wein ins Wasser fließen, weil sie zu arm waren, die Abgaben dafür aufzubringen.
Als ich bei Chatillon die Seine erreichte, kamen mir Banden von Bauern entgegen, die ihre Acker im Stiche gelassen hatten, um in die Fremde zu wandern. Andere drängten sich in der Stadt, wo jedes Haus einer Ruine glich, und bettelten um Arbeit bei dem Schweizer Tuchhändler, der kürzlich gekommen war, um die Weiber für billiges Geld an seine Webstühle zu spannen. Viele priesen ihn, als wäre er der Herrgott selbst. Es waren Leute darunter, die wie das liebe Vieh schon Gras gefressen
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/148&oldid=- (Version vom 31.7.2018)