Schweizer mit all seiner Steifheit ist, so halte ich
ihn in diesem Augenblick so sehr für unsern Freund,
daß ich mich entschloß, Madame Necker meinen
Besuch zu machen. Ich habe es nicht bereut,
selbst wenn ich dabei nichts anderes gewonnen
hätte, als den Einblick in eine neue Welt. Wir
mögen sie ignorieren, aber sie besteht, sie entwickelt
sich, sie nimmt die Allüren der unseren
an, und wir selbst haben sie ins Leben gerufen,
indem wir all diesen Leuten, die noch vor zwanzig
Jahren kleine Krämer waren und sich nicht tief
genug vor uns beugen konnten, die Ausnutzung
der finanziellen Kräfte des Landes überließen.
Heute sind sie Bankiers und Generalpächter, haben
Schlösser auf dem Land, Hotels in der Stadt, spielen
die Mäzene aller unruhigen Geister und uns, den
Privilegierten bis zum König hinauf, sind zu dem im
Grunde gebotenen Kampf gegen diese neuen Mächte
die Hände gebunden, weil wir ihren Einfluß und
– noch mehr – ihr Geld gebrauchen.
Sie hätten mit mir beobachten sollen, wie Madame Necker, die ihre mangelhafte Grazie durch kühle Klugheit zu ersetzen sucht, in ihrem eleganten Salon empfängt, wie sich Politiker, Philosophen und Poeten um ihre Tafel drängen. Wohl dachte ich dabei an die Glanzzeit Madame de Tencins und ihrer eleganten Besucher, deren Esprit alle Tagesinteressen graziös zu umflattern pflegte wie Schmetterlinge die Blumen, während der
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/138&oldid=- (Version vom 31.7.2018)