haben; mir scheint ein Teil des Geistes unserer Epoche in ihr verkörpert, wie denn überhaupt die Frauen, sei es infolge ihrer größeren Sensibilität, sei es, weil sie den geheimnisvoll wirkenden Kräften der Natur näher verwandt sein dürften als wir, in besonderem Maße die Produkte ihrer Zeit und ihrer Umgebung sind.
Von majestätischem Wuchs und üppigen Formen, mit unbewegt regelmäßigen Zügen, waren die Frauen unter dem Zepter des Roi soleil; ihre Schönheit war eine rein körperliche, zu der das steife, prunkvolle Hofkostüm ebenso paßte, wie die antikisierenden Gewänder des Schauspiels und des Balletts; graziöser, lebhafter erschienen die Zeitgenossinnen der Marquise Pompadour; der Geist fing an, auch das unregelmäßige Gesicht von innen zu verklären; heute hat er sich den ganzen Körper unterworfen. Ein seelenvolles Auge, ein kapriziöses Näschen, ein Mund, der, selbst wenn er stumm bleibt, jeden Gedanken, jedes Gefühl wiedergibt; feine, schlanke Glieder, die nicht mehr um ihrer selbst willen da zu sein scheinen, sondern nur neue Ausdrucksmittel der Empfindungen sind –, das ist die Frau fin de siècle, das ist Madeleine Guimard. Sie ist nicht mehr jung, sie ist keine Schönheit, und doch ruiniert sich der Prinz von Soubise für sie, und der Herr von Laborde, ihr amant de coeur aus der Vergangenheit, bewahrt ihr die Treue eines
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/097&oldid=- (Version vom 31.7.2018)