Lieber Freund! In diesen Zeiten wachsender Angst und Sorge denke ich so unablässig an Peking und an alles, was sich dort zutragen mag, daß es mir oft ist, als sei ich selbst dort und ich mich kaum noch erinnere, wo ich mich in Wirklichkeit befinde. Redet mich jemand an, so fahre ich auf, wie aus einem Traume gerissen und muß mich erst wieder besinnen auf die mich umgebende Welt. Stundenlang liege ich nachts wach und sinne nach und suche durch die Gewalt des Willens den Schleier zu lüften, der undurchdringlich zwischen uns liegt. Ich lausche, ob durch das tiefe Schweigen nicht doch eine einzige Stimme dringt, die mir Kunde brächte. Und dann am Morgen das fieberhafte Warten, bis die Zeitungen kommen, der jedesmalige sichere Glauben, heute müssen sie erlösende Nachrichten enthalten – und das jedesmalige Zusammensinken aller Hoffnung, die bittere Enttäuschung – immer das gleiche tiefe Schweigen.
Bilder aus jenen vergangenen Zeiten ziehen unablässig an meinen Augen vorbei, und ich möchte jede kleinste Erinnerung an all die damaligen Ereignisse festhalten, wenn sie auch anderen gleichgültig
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten. Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin 1903, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Briefe_die_ihn_nicht_erreichten_Heyking_Elisabeth_von.djvu/211&oldid=- (Version vom 31.7.2018)