Paul Julius Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. 5. veränderte Auflage | |
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doch schon unzählige Menschen ohne Heilkunde gesund und ohne Philosophie glücklich gewesen sind? Auch sind ja schon äusserst weise Entscheidungen in schwierigen Conflicten getroffen worden von Leuten, die sich nie im Leben mit Juristerei beschäftigt haben. Sind aber darum wohl die ganzen Facultäten überflüssig, weil unter Millionen einige Tausend ganz gut ohne sie fertig werden? Und genau so verhält es sich bei den Müttern, einige Tausend haben unter glücklichen Umständen bei bildungsfähigen, gesunden Kindern glückliche Resultate erzielt, wie unendlich viele aber, trotz eines reichen Gemüts und aufopferndster Zärtlichkeit, durch Mangel an nöthigem Verständniss, die schwersten, fürs ganze Leben verhängnissvollen Fehlern (sic!) an ihren Kindern begangen haben, das entzieht sich unserer Beurtheilung, da diese Mütter selbst in den meisten Fällen sich wohl ihres Theils der Schuld an ihrem Unglück kaum bewusst waren und sind.
Selbst aber da, wo alles gut abläuft, kommt eine Zeit, wo die bloss seelenvollen Mütter weder der heranwachsenden Generation noch sich selbst mehr recht genügen wollen, und jeder Mensch ist doch länger alt als er jung ist, ist es da ein Wunder, wenn bei solchen Frauen, aus Mangel an jeder anregenden geistigen Beschäftigung, das Gefühl auf Abwege geräth und sie sich an allerlei Intriguen oder ödem Klatsch schadlos zu halten suchen für alle mangelnden Interessen höherer Art? Wenn nicht gar der durch den Zügel der Vernunft ungebändigte Instinkt sie in noch tiefere Abgründe treibt! Nun, ich weiss nicht, ob bei solcher Wahl ein einsichtsvoller Mann nicht doch eine nach Bildung und Wissen trachtende Gefährtin vorziehen würde. Der Nora-Ausweg, diesen plötzlich erwachten Durst über die Mutterpflicht zu stellen und zu seiner Befriedigung alles zu verlassen, gehört nur zu den ersten starken, übers Ziel hinausschiessenden Pendelschwingungen, sobald es erst selbstverständlich ist, dass auch den Mädchen und Frauen dieser Durst gestillt wird, werden diese ihre Pflichten bewusster übernehmen und treuer erfüllen als bisher, wo ihnen Launen immer nur als unvermeidliche kleine weibliche Schwächen angerechnet wurden.
Wenn übrigens Herr Dr. Möbius Ibsen als Apotheker-Dichter bezeichnet, so fürchte ich, haben alle unsre grossen Dichter einen Anspruch auf diesen Titel, denn gewissermaassen pathologisch sind dann auch Lear, Hamlet, Richard III, Jeanne d’Arc, Tasso etc. Ein Drama wäre überhaupt nicht möglich, wenn nicht irgend ein schwerer Conflict, meist zwischen Pflicht und Pflicht, die Seele des Helden bewegte. Dass aber jeder Mensch auch Pflichten gegen das eigene Ich hat, gleichviel, ob dieses Ich nun nach Ansicht des Herrn Dr. Möbius erbärmlich ist oder nicht, wird keiner in Abrede stellen können. Da Nora ein unwissendes, unreifes Kind ist, ist sie eben nicht im stande, diese Pflicht mit ihren andern zu vereinen, es packt sie plötzlich das Entsetzen vor ihrer eigenen Unzulänglichkeit gegenüber einer so verantwortungsvollen Aufgabe, der Einblick in ihres Mannes selbstsüchtigen Character kommt hinzu, ihre Nervenspannung, die schon tagelang währt, seine harten Worte, ihr Misstrauen gegen sich selbst, alles dies vereinigt sich, um sie kopflos ihrem ersten Entschluss, ins Wasser zu gehen,
Paul Julius Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. 5. veränderte Auflage. Marhold, Halle a. S. 1903, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_%C3%9Cber_den_physiologischen_Schwachsinn_des_Weibes_(M%C3%B6bius).djvu/105&oldid=- (Version vom 31.7.2018)