da ein anständiger Mensch sie unentgeltlich erweist, streckt er die Hand nach einer Vergütung aus; das heisst in meinen Augen betteln. Den Lohn kann man begehren, eine Freigebigkeit nicht, wer sie dennoch begehrt, ist Bettler – auf das Kleid kommt es dabei nicht an, es giebt Bettler in Sammt und Seide, die geheime Geschichte der Orden könnte davon viel berichten. Jeder Bettel aber setzt innere und äussere Demüthigung voraus; der sich seines Werthes bewusste Mann bettelt nicht. Das Betteln, in welcher Form es auch geübt werde, thut daher dem richtigen Stolz, von dem jeder ordentliche Mann, auch der geringste, beseelt sein soll, Abbruch, und wenn es wie im Trinkgelderwesen zum System erhoben ist, übt es auf die ganze Gesellschaftsclasse, bei der es besteht, einen moralisch depravirenden Einfluss aus. Es setzt an die Stelle der sittlich heilsamen Wirkung des Lohnes, welcher dem Manne die Befriedigung gewährt, ihn durch Arbeit verdient zu haben, der sein Rechtsgefühl stärkt und seinen Arbeitstrieb anregt, die verderbliche Wirkung eines Mitteldings zwischen Lohn, Geschenk, Almosen, das weder den Rechtfertigungsgrund des ersten: die Arbeit, noch den des zweiten: das Wohlwollen, noch den des dritten: die Bedürftigkeit, für sich anführen kann – eine Zwitterbildung, bei welcher der oben nachgewiesene unlautere Ursprung, dem sie auf Seiten der höheren Classen
Rudolf von Jhering: Das Trinkgeld. Georg Westermann, Braunschweig 1882, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Trinkgeld.pdf/51&oldid=- (Version vom 31.7.2018)