sehr wahrscheinliche Gefahr, Proteste von Oberkellnern und Bedienten gewärtigen zu müssen, sicherstellt. Ich erkläre also hiermit feierlich, dass meine Meinung nicht dahin geht, als ob jeder Oberkellner und jeder Bediente in einem vornehmen Hause dazu verdammt wäre, meine Behauptung zu bewahrheiten, ich zweifle vielmehr nicht daran, dass es unter ihnen neben den räudigen Schafen auch Musterexemplare giebt, für die das Bild, das ich im Bisherigen entworfen habe, in keiner Weise zutrifft. Meine Behauptung ist nicht darauf gestellt, dass jene Wirkungen schlechthin eintreten müssen, sondern dass in denjenigen Fällen, wo jene Ausschreitungen wirklich stattfinden, neben der menschlichen Schwäche: Genusssucht, Eitelkeit, auch die eigenthümliche Natur des Trinkgeldes als wesentlich mitwirkender Factor zur Erklärung heranzuziehen ist.
Andererseits aber sehe ich mich noch genöthigt, meine Behauptung über den moralisch ungünstigen Einfluss des Trinkgelderwesens zu erweitern.
Das Trinkgelderwesen ist in meinen Augen eine durch die Sitte organisirte Art der Bettelei. Für eine Leistung, für welche derjenige, der sie erweist, entweder von demjenigen, in dessen Diensten er steht, bereits Zahlung erhalten hat oder für die er überhaupt keine entgegennehmen sollte,
Rudolf von Jhering: Das Trinkgeld. Georg Westermann, Braunschweig 1882, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Trinkgeld.pdf/50&oldid=- (Version vom 31.7.2018)