Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein | |
|
und Beine u. s. w. seien nicht eines aus dem andern, wie sie jetzt existiren, sondern beide aus einem gemeinsamen Elemente entstanden. Inzwischen brauchen die meisten Naturforscher jenen Ausdruck nur in bildlicher Weise, indem sie weit von der Meinung entfernt sind, daß Primordialorgane irgend welcher Art – Wirbel im einen und Beine im andern Falle – während einer langen Reihe von Generationen wirklich in Schädel und Kinnladen umgebildet worden seien, und doch ist der Anschein, daß eine derartige Modification stattgefunden habe, so vollkommen, daß die Naturforscher schwer vermeiden können, eine diesem letzten Sinne entsprechende Ausdrucksweise zu gebrauchen. Nach der hier vertretenen Ansicht können jene Ausdrücke wörtlich genommen werden; und die wunderbare Thatsache, daß die Kinnladen z. B. einer Krabbe zahlreiche Merkmale an sich tragen, welche dieselben wahrscheinlich ererbt haben würden, wenn sie wirklich während einer langen Generationenreihe durch allmähliche Metamorphose aus wirklichen wenn auch äußerst einfachen Beinen entstanden wären, wird erklärt.
Dies ist einer der wichtigsten Theile im ganzen Gebiete der Naturgeschichte. Allgemein werden die Metamorphosen der Insecten etwas abrupt in ein paar Stufen ausgeführt; die Umformungen sind aber in Wirklichkeit zahlreich und stufenweise, wenn auch verdeckt. So hat z. B. Sir J. Lubbock gezeigt, daß ein gewisses ephemerides Insect (Chloëon) sich während seiner Entwickelung über zwanzig Mal häutet und jedesmal einen gewissen Betrag von Veränderung erfährt; in einem solchen Falle haben wir den Act der Metamorphose in seinem natürlichen oder primären Gange vor uns. Was für große Structurveränderungen während der Entwickelung mancher Thiere ausgeführt werden, zeigen uns viele Insecten, noch deutlicher aber viele Crustaceen. Derartige Veränderungen erreichen indessen ihren Höhepunkt in dem sogenannten Generationswechsel einiger der niederen Thiere. Was kann z. B. größeres Erstaunen erregen, als daß ein zartes verzweigtes, mit Polypen besetztes und an einen submarinen Felsen geheftetes Korallenstöckchen erst durch Knospung, dann durch quere Theilung eine Menge großer schwimmender Quallen erzeugt, und daß diese Eier produciren, aus denen zunächst freischwimmende Thierchen hervorgehen, welche sich an Steine heften und sich zu verzweigten
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/532&oldid=- (Version vom 31.7.2018)