angetrieben, den Gliedern einer und derselben Gemeinschaft in einer allgemeinen Art und Weise zu helfen, aber häufiger dazu gewisse, bestimmte Handlungen zu verrichten. Der Mensch wird durch denselben allgemeinen Wunsch angetrieben, seinen Mitmenschen zu helfen, hat aber weniger oder gar keine speciellen Instincte. Er weicht auch darin von den niederen Thieren ab, dass er im Stande ist, seine Begierden durch Worte auszudrücken, welche hierdurch zu der verlangten und gewährten Hülfe hinführen. Auch das Motiv, Hülfe zu gewähren, ist beim Menschen bedeutend modificirt; es besteht nicht mehr bloss aus einem blinden instinctiven Antriebe, sondern wird zum grossen Theil durch das Lob oder den Tadel seiner Mitmenschen beeinflusst. Beides, sowohl die Anerkennung und das Aussprechen von Lob als das vom Tadel, beruht auf Sympathie, und diese Erregung ist, wie wir gesehen haben, eines der bedeutungsvollsten Elemente der socialen Instincte. Obschon die Sympathie als ein Instinct erlangt wird, so wird auch sie durch Uebung oder Gewohnheit bedeutend gekräftigt. Da alle Menschen ihre eigene Glückseligkeit wünschen, so wird Lob oder Tadel für Handlungen und Motive in dem Maasse ausgetheilt, als sie zu jenem Ziele führen; und da das Glück ein wesentlicher Theil des allgemeinen Besten ist, so dient das Princip des „grössten Glücks“ indirect als ein nahezu richtiger Maassstab für Recht und Unrecht. In dem Maasse als die Verstandeskräfte fortschreiten und Erfahrung erlangt wird, werden auch die entfernter liegenden Wirkungen gewisser Arten des Betragens auf den Character des Individuums und auf das allgemeine Beste wahrgenommen, und dann erhalten auch die Tugenden, welche sich auf das Individuum selbst beziehen, weil sie nun in den Bereich der öffentlichen Meinung eintreten, Lob und die ihnen entgegengesetzten Eigenschaften Tadel. Aber bei den weniger civilisirten Nationen irrt der Verstand häufig, und viele schlechten Gebräuche und Formen von Aberglauben unterliegen derselben Betrachtung und werden in Folge dessen als hohe Tugenden geschätzt und ihr Verletzen als ein schweres Verbrechen angesehen.
Die moralischen Fähigkeiten werden allgemein, und zwar mit Recht, als von höherem Werthe geschätzt als die intellectuellen Kräfte. Wir müssen aber stets im Sinne behalten, dass die Thätigkeit des Geistes bei dem lebhaften Zurückrufen vergangener Eindrücke eine der fundamentalen, wenngleich erst secundären Grundlagen des Gewissens ist. Diese Thatsache bietet das stärkste Argument dar für die Erziehung und Anregung der intellectuellen Fähigkeiten jedes menschlichen Wesens
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/384&oldid=- (Version vom 31.7.2018)